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Nicht genug behindert?

Ist es Glück, wenn man einem Menschen seine Behinderung nicht ansieht? Sind Behinderungen, die auf den ersten Blick nicht direkt zu sehen sind, gleich weniger schlimm?

Fragen und Gedanken, die ich mir in den letzten Tagen sehr häufig gestellt habe.

Anders und (un)sichtbar. Oft wird eine Behinderung mit der Größe der offensichtlichen Sichtbarkeit bemessen. Es gibt Menschen, die haben ein oder mehrere körperliche Erkennungszeichen oder Merkmale. Ihnen sieht man ihre Einschränkung(en) und/oder Behinderung an. Es gab Tage in meinem Leben, da habe ich mir ein solches Merkmal und Erkennungszeichen für Evan gewünscht. So wie eine Art „Aushängeschild“ oder eine „förmliche Entschuldigung“. Nicht immer gleich verurteilt zu werden. Nicht immer in den Augen „Sie hat aber ein freches Kind“ lesen zu müssen. Mittlerweile gehe ich offen mit der Behinderung meines Sohnes um. Ich bin sehr direkt und spreche Dinge offen an und aus. Aber es gibt immer noch die anderen Tage. Tage, an denen es mir schwer fällt. Tage, an denen mein Mutterherz, aufgrund der Blicke und den Reaktionen, schmerzt.

Mich hat die Resonanz meines Artikels „Das muss einfach (noch)mal gesagt werden„, in dem ich über die negativen Reaktionen im Alltag berichtet habe, sehr gefreut aber gleichzeitig auch sehr nachdenklich gemacht. Ich habe sehr viele Kommentare und Nachrichten erhalten, in denen mir Mütter und Väter, Omas und Opas, Freunde, Bekannte, Tanten und Onkels berichtet haben, dass es ihnen ähnlich ergeht. Einige von ihnen haben eine nicht direkt sichtbare Behinderung und andere haben Familienangehörige, die betroffen sind. Die Hintergründe, Umstände, Behinderungen sind alle sehr unterschiedlich aber sie haben eines Gemeinsam: sie sind unsichtbar. Auf dem ersten Blick nicht direkt sichtbar.

Eine nicht sichtbare Behinderung bedeutet nicht automatisch „nichtbehindert“ zu sein. Oft werden die unsichtbaren Behinderungen nicht ernst genommen, da ihre gesundheitlichen Einschränkungen nicht offensichtlich sind. Demenz, Autismus, psychische Erkrankungen, Gehörlosigkeit, ADHS, Herzfehler, Organschäden, chronische Erkrankungen, Migräne, Lernbehinderungen, Diabetes und Multiple Sklerose sind nur einige wenige Beispiele.

Das Unsichtbare sichtbar machen. Ich habe meinen Blog vor einem Jahr ins Leben gerufen, um mich bewusst für mehr Akzeptanz und Offenheit einzusetzen. Ich bin mir im Klaren, dass ich durch diese Webseite keine Wunder vollbringen kann, aber nichtsdestotrotz möchte ich meinen Anteil dazu beitragen, das Unsichtbare sichtbarer zu machen. Intoleranz entsteht oft durch Unwissenheit. Häufig ist es die Unwissenheit und die Angst, die in unserem Alltag das eigentliche Problem darstellen. Vorurteile begleiten unseren Alltag. Evan und ich haben schon sehr viele negative Erfahrungen machen müssen, die durch Unwissenheit entstanden sind. Allerdings gibt es auch einige positive Beispiele. Aus manch anfänglich „schwierigen“ Situationen, sind sehr ehrliche und offenen Gespräche entstanden. Ich habe den Eindruck erhalten, dass sich die Auffassung und die Sicht der Menschen im Laufe des Gespräches positiv verändert haben. Erweiterung des Wissens bedeutet gleichzeitig Abbau von Unwissen und Ängsten.

Meine Fragen und Gedanken der letzten Woche sind zu einer Idee geworden:

Anders und (un)sichtbar

Ich möchte eine neue Rubrik auf unserem Blog starten: anders und (un)sichtbar. Ich habe mir einen Fragebogen überlegt und würde diesen gerne betroffenen Menschen zusenden. Egal ob Angehörige, Freunde, Therapeuten, oder einfach nur interessierten Menschen.

Ich brauche Eure Hilfe & Unterstützung. Habt Ihr Lust über Eure unsichtbare Behinderung oder Eure Betroffenheit zu sprechen? Gerne könnt Ihr mir auch Eure eigene Geschichte – ohne Fragebogen – zusenden. Falls Ihr Interesse und/oder Fragen habt, sendet mir einfach eine E-Mail oder schreibt mir über Facebook. Egal ob mit Bild oder anonym, ich freue mich sehr über Eure Zuschriften und Euer Interesse.

Ich glaube daran, dass das größte Geschenk, das ich von jemandem empfangen kann, ist, gesehen, gehört, verstanden und berührt zu werden. Das größte Geschenk, das ich geben kann, ist, den anderen zu sehen, zu hören, zu verstehen und zu berühren. Wenn dies geschieht, entsteht Kontakt.
(Zitat: Virginia Satir, das größte Geschenk)

In diesem Sinne: Auf einen ehrlichen Kontakt. Dankeschön. 

 

Wir ziehen um! Im Webspace.

„Ich habe lange überlegt, ob ich einen Blog starten möchte oder nicht. Nachdem ich mich dafür entschieden habe, habe ich nochmal ewig gebraucht, um mir zu überlegen wie ich ihn haben möchte bzw. wie publik er sein soll. Ich habe bis jetzt überhaupt keine Erfahrungen was das Bloggen angeht. Ich bin weder auf Facebook, Instagram noch auf Twitter oder habe einen YouToube Channel. Meine erste Überlegung war, dass ich in der dritten Person schreibe oder alles passwortgeschützt anlege. Nach anfänglichen Schwierigkeiten habe ich mich kurzerhand entschlossen einfach anzufangen und so offen wie möglich zu sein und gleichzeitig so privat wie möglich zu bleiben.“

Diese Zeilen sind ungefähr ein Jahr her. (Wow, unseren Blog gibt es jetzt schon seit einem Jahr). Auch wenn ich einiges aus unserem Leben preisgebe, habe ich es – bis jetzt – noch keinen Tag bereut, unsere Geschichte veröffentlicht zu haben. Aus einem anfänglich kleinem Blog sind wunderbare Möglichkeiten, einzigartige Bekanntschaften und besondere Freundschaften entstanden. Ich habe festgestellt, welche Stärke und Energie Wörter und Texte besitzen und wie Texte und Wörter es schaffen, Stärke und Energie freizusetzen. Ich habe mich frei geschrieben.

Und das war nicht immer so. Nach Evans Geburt und seiner Krankheit, habe ich mich sehr zurückgezogen und wollte mich nach Möglichkeit gar nicht, überhaupt nicht, mitteilen. Ich habe Texte geschrieben, die ich entweder nach ein paar Tagen wieder gelöscht oder sofort zerrissen habe. Warum? Gute Frage. Ich glaube ich habe mich geschämt. Geschämt aufgrund meiner Empfindungen, die nicht immer nur positiv waren. Für mich ist das Schreiben zu einem Befreiungsschlag geworden. Ich habe mich befreit. Befreit von sämtlichen gesellschaftlichen Zwängen. Befreit von dem typischen Familienbild. Befreit von Schubläden, in die wir nie wollten. Befreit von Rollen, für die wir nie vorgesprochen haben. Befreit von sämtlichen Bilderbüchern. Und heute? Schreiben wir unsere eigene Familiengeschichte.

Im Laufe des letzen Jahres sind aus den Blog-, Facebook- und Instagram-Neulingen kleine (sehr kleine) Experten mit wachsenden Ansprüchen geworden. Ich überlege sogar einen eigenen You Tube Channel zu machen. Vor einem Jahr? Wäre das schlichtweg undenkbar gewesen.

Unseren Blog lebendiger zu gestalten, war ein großes Ziel. Einen Blog zu kreieren, der zum Stöbern und Verweilen einlädt. Ich hoffe, dass ist uns ein wenig gelungen. Nach einem Jahr können wir sagen: Wir ziehen um. Wir sind umgezogen. Ihr findet uns genau hier:

www.andersunddochnormal.de

Leider konnte ich die Abonnements unseres alten Blogs nicht mit auf unseren neuen Blog nehmen. Falls Ihr unseren alten Blog abonniert habt, dann registriert Euch bitte nochmal auf dieser Seite. Einfach auf der Startseite in dem Kästchen E-Mail Adresse, Eure E-Mail eintragen oder schickt mir persönlich eine Mail. Wir freuen uns auf  Euch.

Nichts als die Wahrheit.

Nichts als die Wahrheit. Oder lieber nicht? Darf man heutzutage noch ehrlich sein?

Hallo. Wie geht es Dir?
Ich bin vollkommen erschöpft, mental und körperlich.
Oh, wie schön. Das freut mich. Danke, mir gehts auch gut. Bis dann.
Äh? Okay… Danke. Gerne. Bis dann.

Wie geht es Dir? Eine Frage. Im heutigen Gebrauch wohl eher eine Floskel, auf die kaum jemand eine ehrliche Antwort erwartet und hören möchte. Oft wird diese Frage wie ein kurzes „Hallo“ in den Raum geworfen. Das „Danke, sehr gut“ schon nicht mehr abgewartet und mit einem „Danke, mir auch“ beantwortet. Früher habe ich bei dieser Frage immer mein „Mir-geht-es-gut (sehr-gut)-Gesicht“ aufgesetzt. Egal wie scheiße ich aussah und wie abstrus dieses „Mir-geht-es-gut-Gesicht“ zu meinem restlichen Erscheinungsbild gepasst hat. „Wow, ihr geht es gut und sie sieht richtig scheiße aus. Wie schafft sie das bloß?“ (Ehrlich? Das frage ich mich wirklich sehr oft). Ich habe geantwortet, wie die meisten Menschen es von mir erwartet haben. Ich es vielleicht selber von mir erwartet habe. Liebende Mutter, strukturierte Organisatorin, gründliche Putzfrau, zuverlässige Therapeutin und dazu noch gut (hervorragend) aussehende Frau und nachts (natürlich) leidenschaftliche Liebhaberin, Femme fatale in Person. Höchstpersönlich. Zu Hause laufe ich grundsätzlich mit High Heels und kurzen Röcken herum. Dieses Outfit ist bei einem kleinem, sehr energiegeladenen Kind, besonders praktisch und das Wichtigste: Man sieht immer gut aus. Egal zu welcher Uhrzeit der Postbote am Wochenende klingelt – Ich bin vorbereitet und sehe hervorragend munter und zurechtgemacht aus. Leider sieht es in der Realität meistens -etwas- anders aus. Verstärkt, da Evan seit einigen Wochen beherrscht, die verschlossene Wohnungstür – trotz zusätzlichem Sicherheitsschloss – selbstständig zu öffnen und mein kleiner Michel die Postboten oder sonstigen Kurierfahrer freudestrahlend zu uns in die Wohnung einlädt (ob Mama gerade unter der Dusche steht oder ihre neue Quarkmaske ausprobiert ist ihm ziemlich egal und wird gekonnt ignoriert). Äh, wo soll ich unterschreiben?

Mittlerweile versuche ich auf die Frage „Wie geht es Dir?“ ehrlich zu antworten. Ich lade nach dieser Frage – diesen 4 Wörtern – nicht meinen kompletten Ballast (Misthaufen) ab -„Oh, wie gut, dass Sie fragen (dass endlich mal jemand fragt). Also, wo soll ich anfangen? Heute geht es mir nicht so gut. Angefangen hat es um 4 Uhr nachts, dann…“ – aber ich versuche ehrlich zu bleiben. Ich bin vollkommen erschöpft, mental und körperlich.  Möchtest Du das hören? Das weiß ich nicht. Aber es ist die Antwort auf Deine Frage. An manchen Tagen die einzig Ehrliche.

Eine weitere Frage, bei der ich früher nicht immer ganz ehrlich war, da eine andere Antwort von mir erwartet wurde, ist die Frage: „Jetzt ist er aber gesund, oder?“ Eine Frage, die überwiegend wie eine Feststellung benutzt wird. Mein Umfeld erwartet in den meisten Fällen eine positive Antwort. „Ja, jetzt ist er gesund. Ihm geht es blendend.“ Ende gut, alles gut. Und sie lebten glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende. Danach nehmen wir uns in die Arme und sagen uns wir sehr wir uns lieben und schätzen. Nein, leider nicht ganz. Evan ist nicht gesund und wir nehmen uns weder in die Arme noch sagen wir uns wie sehr wir uns lieben und schätzen. Evan lebt mit einem halben Herzen. Operiert heißt nicht geheilt. Das Hypoplastische Linksherzsyndrom (HLHS) ist der schwerste angeborene Herzfehler, auch wenn es mittlerweile ein Leben und eine Zukunft mit fehlender Herzkammer gibt und Evan mir jeden Tag aufs Neue zeigt was für ein tolles und lebenswertes Leben das ist, ist Evan nicht gesund. Nach ein paar Jahren Übung, habe ich gelernt, offen mit dieser Frage und der ehrlichen Antwort umzugehen und diese auch deutlich zu kommunizieren. Möchtest Du das hören? Das weiß ich nicht. Aber es ist die Antwort auf Deine Frage. Die einzig Ehrliche.

Behinderung. Ein (weiteres) schwieriges Thema in Deutschland. Finde ich zumindest. Mein Kind ist behindert. Darf man/ich das so sagen? Behindert? Wenn ich Außenstehenden erzähle, dass mein Sohn behindert ist, zucken sie zusammen. Sollte ich lieber besonders oder anders begabt, besonders befähigt, sagen? Besonders behindert vielleicht? Oder es doch lieber einfach nett und niedlich umschreiben?

Mein Sohn ist krank.
Oh, was hat er denn? Die Grippe?
Äh, nicht ganz.
 Und Tschüss. 

Ich sage behindert. Für mich ist behindert kein Wort, bei dem man zusammen zucken muss. Evan ist verhindert/behindert etwas zu tun. Ganz einfach. Aber ist es wirklich so einfach? Ich benutze das Wort behindert wie andere Leute sich ganz selbstverständlich die Hand bei der Begrüßung geben. Wenn Kinder sich fragen warum der große Junge noch nicht spricht oder Evan nicht reagiert, versuche ich es ihnen ganz klar und kindgerecht zu erklären. Ich gehe sehr offen mit der Behinderung meines Sohnes um. Wenn uns Menschen an der Kasse komisch anschauen – länger als 60 Sekunden penetrant starren-, drehe ich mich um und sage freundlich: Mein Sohn ist behindert. Beim Bäcker, im Kaffee (sofern ich mit Evan mal eins besuche), bei der Post oder beim Arzt. Das mag befremdlich wirken aber es ist mein/unser Weg damit umzugehen. Für mich ist Evans Behinderung nicht nur eine Diagnose. Es ist unser Leben. Jeden Tag aufs Neue. Für einige Leute in meinem Bekanntenkreis ist diese offene Art schwierig und befremdlich. Das merke ich an den Reaktionen. Irgendwas macht das Wort behindert mit ihnen. Aber warum? Evan ist behindert. Und noch so viel mehr.

Für mich ist das Wort Behinderung oder behindert keine Beleidigung. Ganz im Gegenteil. Vielmehr beinhalten die Wörter, dass es eine nicht barrierefreie Umwelt ist, die behindert. Ganz nach dem Motto: Behindert ist man nicht, behindert wird man. Mir persönlich gefallen die beschönigenden Alternativ-Ausdrücke wie besondere Bedürfnisse oder anders begabt nicht so sehr, da sie nicht vollends zutreffen. Evans Bedürfnisse und Fähigkeiten sind nicht nur „besonders“ oder „anders begabt“ sondern genauso vielfältig wie die nicht behinderter Menschen. Das ist meine persönliche Meinung. Jeder sollte seinen persönlichen, eigenen, Weg inklusive Wortwahl, finden und benutzen, bei dem er/sie sich wohl fühlt. Egal wie es sich für das Umfeld anfühlt oder ob es andere Menschen für richtig empfinden.

Ich habe lange Zeit mehr Rücksicht auf fremde Menschen und ihr Empfinden genommen als auf meine Gefühle und meine Empfindungen zu hören. Bloß nichts Falsches sagen und keine Blöße zeigen – immer mit meinem „Mir-geht-es-gut (sehr-gut)-Gesicht“ im Schlepptau. Früher war es mir sehr wichtig gemocht und akzeptiert zu werden. Heute? Ist es mir größtenteils egal geworden. Mittlerweile suche ich mir die Menschen, an unserer Seite, sehr gründlich aus. Mir ist meine Zeit zu kostbar geworden, um diese mit Menschen zu verbringen, die uns nicht gut tun.

Seitdem ich versuche ehrlicher und offener durchs Leben zu gehen, haben sich wunderbare und ehrliche Gespräche entwickelt, deren Verlauf ich im Vorhinein nie erwartet hätte. Oftmals habe ich das Gefühl, dass mein Gegenüber dankbar ist, wenn ich sage, dass es mir heute nicht so gut geht. „Ehrlich? Mir geht es genauso. Es ist schön zu hören, dass ich nicht alleine bin. Danke!“ Ich habe im Laufe der Zeit gemerkt, dass ich nicht immer gut drauf sein muss und wie befreiend es ist, dies auch offen zum Ausdruck zu bringen. Ganz nach dem Motto: „Wow, ihr geht es schlecht und sie sieht auch dementsprechend scheiße aus. Wie ehrlich ist das denn?“ 

Darf man heutzutage noch ehrlich sein? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Aber ich mache es trotzdem. Jeden Tag ein bisschen mehr.

 

 

Unsere Alternative für Deutschland?

Dieser Artikel soll kein politisches Statement sein, sondern ein menschliches.

Ich bin sehr dankbar, dass Evan und ich in Deutschland leben dürfen. Haben wir etwas dafür getan? Nein. Wir hatten Glück. Einfach nur Glück. Glück, dass meine Eltern hier geboren sind. Haben die etwas dafür getan? Eine Leistung vollbracht? Nein, auch sie hatten Glück. Glück in einem demokratischen Land zu leben. Wenn ich die Aussagen einiger deutschen Mitbürger in sozialen Netzwerken lese, bekomme ich den Eindruck, dass diese Menschen, die oft nicht älter sind als ich, Deutschland mit ihren eigenen Händen erbaut haben. Erschaffen haben. Sie es verdient haben in Deutschland zu leben. Eine angemessene Leistung vollbracht haben. Aber ist dem wirklich so? Trifft es nicht eher zu, dass Deutschland ohne (ausländische) finanzielle Unterstützung nach dem 2. Weltkrieg nicht wieder hätte aufgebaut/saniert werden können? Ich erwähne an dieser Stelle nicht die vielen ausländischen Leiharbeiter, die tatkräftige Unterstützung geleistet haben. (Danke Enno Lenzer, Journalist, an dieser Stelle für den Gedankenanstoß). Woher nehmen sich also so viele Mitbürger das Recht anzunehmen, dass sie es verdient haben in Deutschland zu leben? Jeder Mensch strebt nach dem Glück dieser Erde. Es ist ein Urinstinkt glücklich sein und in Frieden leben zu wollen. Jeder Mensch möchte seine ganze eigene Lebenschance nutzen. Haben wir, weil wir zufällig in Deutschland geboren sind, mehr Anrecht auf Glück? Haben die Anderen einfach nur Pech gehabt? Tja, tut mir leid. Pech gehabt. Vielleicht hast Du beim nächsten Mal mehr Glück. In Deinem anderen Leben.

Wir sind verwöhnt und klagen auf hohem Niveau.

Mir und Evan geht es in Deutschland sehr gut und dafür bin ich unendlich dankbar. Ich bin  alleinerziehend, mit einem chronisch kranken Kind, und weiß wie schwer die finanzielle Last das Leben beschweren kann. Ich bin mir bewusst, dass es Mitbürger unter uns gibt, die an der Armutsgrenze leben und sich täglich fragen müssen, wie sie sich und ihre Kinder über die Runden bringen sollen. Das tut mir sehr leid. Kein Mensch sollte dieser Belastung ausgesetzt sein. Ich spreche allerdings die Mitbürger unter uns an, die sich keine Sorgen machen müssen. Wenn wir ehrlich zu uns selber sind,  geht es uns, im Vergleich zu vielen anderen Menschen auf dieser Welt, sehr gut. Wir leben in Frieden. Wir haben genügend Essen und sind krankenversichert. Ganz ehrlich: wir sind verwöhnt und klagen auf hohem Niveau. Evan wird medizinisch bestens ver/und umsorgt. Schmarotzer. Dieses Wort höre ich in letzter Zeit sehr oft. Sozialschmarotzer. Wenn ich einem Flüchtling begegne, gehe ich davon aus, dass dieser Mensch vor Tod und Elend geflüchtet ist – auch wenn er im Besitz eines Handys oder anderer Eigentümer ist. Bin ich ein „Gutmensch“? Nein, ich glaube nicht. Ich bin ein Mitmensch, der mitfühlt. Ich hatte das Glück schon einige dieser Menschen kennen zu lernen. Ihre Geschichten zu hören. Die Menschen, denen ich bis jetzt begegnet bin, haben fürchterliche, unbeschreibliche Dinge durchlebt. Ich nehme diese Geschichten mit. Die Schicksale und Tragödien beschäftigen mich. Und das kostbare Glück keimt in mir auf, in Deutschland zu leben. Woher kommt die Skepsis und Angst, dass hinter jedem Flüchtling ein Sozialschmarotzer steckt? Wenn ich einem Menschen in Deutschland begegne, der Arbeitslosengeld erhält, denke ich dann sofort: Sozialschmarotzer? Evan und ich sind Sozialschmarotzer. Was der Staat an Behandlungskosten für Evans Erkrankungen schon aufgebracht hat und noch aufbringen wird, werde ich in meinem Arbeitsleben nicht einzahlen können. Und schon wieder umklammert mich diese unendliche Dankbarkeit, in einem sozialen Land leben zu dürfen. Ein anderes gern gebrauchtes Wort in Bezug auf Flüchtlinge ist der Wirtschaftsflüchtling. Aber was genau ist falsch daran, mit der Aussicht auf einen besseren Verdienst seine Heimat zu verlassen? Wie viele Mitbürger verlassen Deutschland mit der Aussicht auf einen besser bezahlten Arbeitsplatz im Ausland? Goodbye DeutschlandWir versuchen unser Glück in Australien ohne ein Wort englisch zu sprechen, zu wissen wo Australien genau liegt, ohne einen Arbeitsvertrag unterschrieben zu haben (ich mache mich sowieso sofort selbstständig) und ohne irgendeine Form von Rücklagen. Viel Glück! In diesem Zusammenhang habe ich noch nie den Gebrauch des Wirtschaftsflüchtlinges gehört. Welchen Wertung höre ich ebenfalls oft? Krimineller männlicher Flüchtling. Alles kriminelle Flüchtlinge – die allesamt ein menschenverachtendes Frauenbild haben. Es ist eine Tatsache, dass wir alle aus verschiedenen Kulturen kommen, mit unterschiedlichen Werten und Normen erzogen wurden, das nennt man Kulturenvielfalt. Die männlichen Flüchtlinge, die ich bis jetzt kennengelernt habe, waren durchweg freundlich und respektvoll mir gegenüber. Ich habe mich zu keiner Zeit unwohl oder nicht respektvoll behandelt gefühlt. Die deutschen Männer müssen die deutschen Frauen beschützen. Diesen Eindruck habe ich nach den Ereignissen der Überfalle in verschiedenen deutschen Städten erhalten. Nur die deutschen Männer scheinen dies ordentlich erledigen zu können (die Männer, die morgens schon am Ballermann mit Strohhalmen aus riesigen Eimern Sangria trinken, dabei „Schatz geh mal wieder Bier holen, Du wirst schon wieder hässlich“ singen und in die Ecke bzw. an den Strand kotzen – Entschuldigung, diese Schublade musste sein). Tatsache ist: Es ist schrecklich was in den Städten mit den Frauen passiert ist. Kein Mann hat das Recht eine Frau ungewollt unsittlich zu berühren. Punkt. Egal welcher Herkunft oder welchem Volk dieser angehört. Abgründe getarnt als unsere gut bekannten Schubladen tun sich auf. Wie oft habe ich mich und Evan schon aus einer dieser überdimensionalen Schubladen herausgeholt. Herausgezogen. Komm Evan, wir flüchten – wir sind Flüchtlinge in unserem eigenen Land.

Nur ein bisschen mehr Glück gehabt.

Ein kleiner Junge liegt am Strand. Was ist falsch an diesem Bild? Das dieser Junge sich nicht nach einem aufregenden schönen und sonnigen Tag mit seiner Familien am Strand ausruht. Nein, dieser Junge liegt tot am Strand. Angespült. Bekleidet mir seiner blauen Sommerhose und einem roten T-Shirt. Der eigene Vater trägt seinen leblosen Jungen auf dem Arm. Dieses Bild hat sich eingebrannt. Spiegelt das Elend und die unendliche Traurigkeit wieder. Unbeschreiblich. Wörter, die für mich eine so große Macht besitzen, vermögen nicht im Kleinsten dieses Bild in meinem Kopf zu beschreiben. Mein ganz eigenes Bild der Flüchtlingssituation. Es bricht mir das Herz. Ich stelle mir vor, dass dieses Kind Evan ist. Ich die Mutter, die ihn auf dem Arm trägt. Umgekommen auf dem Weg in eine bessere Zukunft. Was unterscheidet mein Leben von dem des Vaters? Nichts. Nur das bisschen mehr Glück, Deutschland mein Heimatland nennen zu dürfen. Wie kostbar. Dieses bisschen mehr Glück. Wenn ich mit meinem wundervollen Sohn in einem Land leben würde, in dem weder Frieden herrscht noch eine gute medizinische Versorgung vorliegt, glauben Sie mir, ich würde alles menschenmögliche auf mich nehmen, um ihn ein besseres Leben zu ermöglichen. Alles. Ich bin mir sicher, dass ich diese Reise nicht alleine antreten würde. Viele Eltern und Mitmenschen, die sich nach einem glücklichen und friedlichen Leben sehnen, würden sich unser anschließen. Komm kleiner Michel, wir erleben unser größtes Abenteuer und gehen auf eine Reise. Eine Reise in eine bessere Zukunft. Evan würde mich mit seinen großen Augen anschauen und mir voller Vertrauen folgen. Ohne die kleinste Spur des Zweifelns zu empfinden. Dieser kleine Jung am Strand hat seinem Vater vertraut. Getraut. Ich vermag nicht im entferntesten nachzuempfinden wie es diesem Vater jetzt ergehen muss. Ich schäme mich, wenn ich an dieses Bild denke.

Da ich mich ganz klar gegen Schubladen ausspreche, möchte ich die Menschen, die der AfD ihre Stimme gegeben haben, ungerne in eine solche stecken. Die AfD wird – leider – nicht von der Bildfläche verschwinden, wenn man ihre Wähler als Looser beschimpft oder ihnen verbietet bestimmte Seiten auf sozialen Netzwerken zu besuchen. Ich finde es legitim, wenn man in adäquater und konstruktiver Form Kritik an politischen Entscheidung äußert ohne direkt in eine Schublade zu gelangen. Allerdings muss Ihnen, liebe AfD Wählern, klar sein, dass diese Partei ein Sammelbecken rechtsradikaler Wähler ist. Auch wenn die AfD sich deutlich von der NPD distanziert hat, sieht die NPD diese als ihre Schwesternpartei an und hat ihre Mitglieder öffentlich dazu aufgerufen die Erststimme an die AfD zu geben. Grund dafür ist, dass  diese Partei einen offenen rechtsradikalen Populismus ausübt. Rechtsradikale fühlen sich zu Hause. Angekommen. Aufgenommen. Endlich. Wie ein Stiefsohn, den vorher außer der dicken dummen Tante (NPD) keiner lieb hatte. Liebe AfD Wähler, Ich bin ja kein Nazi, aber funktioniert in diesen Kontext leider nicht mehr.

Die AfD bietet keine Lösungsansätze, sie spielt mit den Ängsten der Bevölkerung.

Ich distanziere mich an dieser Stelle ganz deutlich von der AfD. Für mich ist diese Partei und ihr Wahlprogramm menschenverachtend, rassistisch, rechtsradikal und fremdenfeindlich. Eine Partei, die die finanzielle Abstrafung von Alleinerziehenden vorsieht (Programmentwurf), sich öffentlich herablassend und niederträchtig über behinderte Menschen äußert und sich gegen Inklusion ausspricht „Inklusion muss dem Menschen dienen, nicht der Mensch der Inklusion.“  Die AfD setzt sich für „unbürokratische“ Erziehungsmaßnahmen und eine verbesserte „Disziplin“ ein. Wer stört oder nicht ins System passt, fliegt. Ganz einfach. Welche Aussicht hätte mein kleiner Michel aus Lönneberga in einem solchen System? Eine Partei, die den Klimawandel ignoriert und im hinteren Teil ihres Wahlprogrammes die Unterstützung für Migranten als „Integrationsfolklore“ verhöhnt (ich habe mir die Mühe gemacht die 80 Seiten des Programmes zu lesen). Sieht so meine und Evans Zukunft für/in Deutschland aus? Nein, definitiv nicht! Ich kann und möchte mir beim Besten willen nicht vorstellen, dass die AfD so viele Wählerstimmen aufgrund ihres  genialen Parteiprogrammes erhalten hat. Gerade weil dieses Programm (u.a. die Sozialversicherung privatisieren, Staatsfinanzierung entsolidarisieren und den Mindestlohn abschaffen) ausgerechnet den Menschen schaden würde, die diese Partei besonders unterstützen, die Arbeiter und Arbeitslosen in Ostdeutschland (Spiegel, so unsozial ist die AfD). Was also bewegt so viele Menschen diese Partei zu unterstützen? Es ist ganz einfach: sie spielt mit den Ängsten der Bevölkerung. Und dieses Spiel beherrscht sie gut. Die älteste und stärkste Gefühl der Menschen ist die Angst, und die älteste und stärkste Art der Angst, ist die Angst vor dem Unbekannten. Howard Phillips Lovecraft

In meiner naiven Vorstellung wünsche ich mir, dass Sie, liebe AfD Wähler, dieser Partei aus Angst ihre Stimmen gegeben haben. Nicht aus Überzeugung. Wenn dem nicht so sein sollte, kann ich Ihnen leider nur noch eins mit auf dem Weg geben: Fuck off! Meine ganz persönliche Mini Schublade für Sie. Deutschland steht für Lebenschancen. Flüchtlinge, die nach Deutschland und Europa fliehen, streben nach diesen Lebenschancen. Für uns ein selbstverständliches Gut: echte Chancen und das eigenen Leben in Würde zu führen. (Zwei Werte für Alle, The European). Wenn wir über politische Lösungsansätze diskutieren, dürfen wir eines nicht vergessen: Die Menschenwürde und unser unendliches Gut in einem friedlichen Land in Würde leben zu dürfen. Mögen Sie anderen Menschen dieses kostbare Gut absprechen, nur weil Sie ein bisschen mehr Glück hatten? Bevor viele von Ihnen jetzt verstört aufschreien – Deutschland hat keine Kapazitäten mehr! – kann ich Sie beruhigen, in 2014 nahm das Bundesland Brandenburg 6.000 Flüchtlinge auf. Im April 1949 lebten dort 655.466 Vertriebene, was einem Bevölkerungsanteil von 24,8 Prozent entsprach. Häufig waren sie jahre-, manchmal sogar jahrzehntelang zwangsweise bei Einheimischen oder in Notunterkünften einquartiert. Angesichts solcher Erfahrungen sollten wir uns heute keine übertriebenen Sorgen machen und uns an unsere eigenen Familiengeschichten erinnern. (Zeit online, Artikel: Böhmen, Pommern, Syrien).

Mein kleiner Michel aus Lönneberga, ich wünsche Dir ein Deutschland, indem die Würde jedes einzelnen Menschens gleich viel wert ist. Die unantastbare Würde. Diese nicht mit ein bisschen mehr Glück oder irrsinnigen Besitzansprüchen begründet wird. Und ich wünsche Dir Frieden. Ein Leben lang.

 

 

 

 

 

 

Wenn ein Mensch langsam verblasst.

Menschen strahlen und scheinen in den hellsten Farben. Manche Menschen leuchten so stark und so hell, dass man der festen Überzeugung ist, dass ihre Farben nie verblassen werden. Dass sie immer so strahlend bleiben. Vor ein paar Tagen saß ich meiner Oma gegenüber und konnte meinen Blick nicht mehr von ihr abwenden. Ich besuche meine Oma regelmäßig und sehe sie dementsprechend oft aber an diesem Nachmittag war es anders.

Sie wird immer weniger – war mein Gedanke. Nicht weniger von ihrem Ausmaß sondern weniger von Ihrer Persönlichkeit. Sie verblasst. So wie ein Stück Stoff, dass vom Leben immer und immer wieder gewaschen wird und jedes Mal ein wenig mehr verblasst und an Farbe verliert.

Meine Oma wird dieses Jahr 80 und natürlich – ganz selbstverständlich – verändert man sich im Alter. Ich bin auch nicht mehr derselbe Mensch wie vor 15 Jahren (zum Glück). Ich finde Veränderungen positiv und möchte heute nicht mehr in meinen “Anfang Zwanzigern“ leben. Mit 33 Jahren habe ich das Gefühl, endlich bei mir selber angekommen zu sein. Zumindest bin ich auf einen gutem Weg. Veränderungen sind positiv. Auch das Altern ist positiv. Aber bei meiner Oma ist es anders. Die Andersartigkeit lässt sich mit einem Wort beschreiben: Demenz.

Meine Oma leidet an Demenz. Was ich vorher so oft verdrängt habe, nicht sehen wollte, ist mir an diesem Nachmittag bewusst geworden. Meine Oma verblasst. An diesem Nachmittag war ihr Blick leer. Sie schaute mich an und sah mich trotzdem nicht. Die Krankheit verändert einen Menschen. Sie macht aus einer erwachsenen Person ein kleines Kind. Wenn ich mit meiner Oma und Evan unterwegs bin, frage ich mich manchmal, wer anstrengender ist. Meine Oma oder Evan? Meistens ist es meine Oma. Beim Schreiben dieser Zeilen, tut mir das Geschriebene schon weh. Aber es ist die Wahrheit. Leider. Oftmals habe ich keine Geduld für meine Oma. Ich bin schnell genervt und fertige sie mit ein paar Worten oder einer Handbewegung ab. Nach der zehnten gleichgestellten Frage, antworte ich gar nicht mehr und meine Gedanken schweifen ab.

Verständnis. Ein Wort, das in meinem Leben eine so große Rolle spielt. Ich erwarte Verständnis für unsere Situation. Ich predige in meinen Texten, Verständnis für andere Menschen aufzubringen. Mir selber aber fällt es unheimlich schwer, Verständnis für meine Oma zu haben. Warum? Es tut weh, meine Oma beim “Älterwerden“ zuzusehen. Meine Oma dabei zu beobachten wie sie immer mehr abbaut und an Farbe verliert. Meine Oma ist die Einzige, die mir von meinen Großeltern geblieben ist. Ein Stück Kindheit. Ein Stück Jugend. Sich einzugestehen, dass sie immer wenig wird, bedeutet gleichzeitig sie Stück für Stück gehen zu lassen.

Annehmen. Veränderungen annehmen. Alter annehmen. Den Lauf des Lebens annehmen. Vielleicht geht es gar nicht immer darum wie grell und hell unsere Farben des Lebens leuchten, sondern um die Intensität der Farben. Wenn ich an meine Oma denke, denke ich an ein starkes und dunkles Rot. Ein Rot, dass über die Jahre an Deckkraft zugenommen hat. Schicht für Schicht deckender und dunkler wurde. Vielleicht ist es ganz normal, dass aus einem leuchtenden Rot über die Jahre ein gesetztes dunkles Rot wird. Eine Farbe, der man die Lebenserfahrung deutlich ansieht. Ein Stück Stoff, das zwar nicht mehr so kräftig leuchtet aber dadurch nicht an Wert verloren hat, sondern dessen Wert durch das Waschen über die Jahre zugenommen hat.

Was macht einen Menschen aus? Der Kopf und/oder der Verstand? Für mich ist es das Herz. Über die Monate habe ich gelernt, dass, wenn ich meine Oma erreichen möchte, ich die Sprache des Herzens sprechen muss und nicht so sehr die Sprache des Kopfes.

Scheiß auf Demenz! Oma, ich hab Dich lieb.

Autismus. Das, ist doch…

Autismus. Jedem scheint der Begriff geläufig zu sein. Autismus, das ist doch…. Nee, das bedeutet doch…. Jeder kennt den Ausdruck und noch viel wichtiger, jeder weiß es besser. Welche tägliche Herausforderung Autismus mit sich bringt, ist vielen nicht bewusst oder wird (gerne) unterschätzt. Entweder man ist hochintelligent, verfügt gleich über mehrere Inselbegabungen, oder man lebt isoliert, spricht kaum oder gar nicht und starrt die meiste Zeit an die Decke. Dazwischen? Da scheint es nicht viel zu geben. Vielleicht mal ein „Auf mich wirkt er eigentlich ganz normal“ oder „Ich bin auch oft vom Leben überfordert“.

Autismus. In letzter Zeit höre ich das Wort immer öfter. Ist das gut? Das kommt drauf an. Wenn ich Menschen erzähle, dass mein Sohn Autist ist, bekomme ich immer häufiger zu hören: Ah, Autist. Dein Sohn hat doch kein Autismus, Du erziehst ihn nur nicht richtig. Ah, okay. Vielen Dank! Eine Diagnose. Gestellt in nur wenigen Minuten. Sekunden. Autismus scheint für viele Menschen zu einer neuen Modekrankheit geworden zu sein. Das Kind verhält sich nicht angemessen, dank der fehlenden Erziehung (in meinem Falle kommt das Fehlen der männlichen Bezugsperson noch erschwerend hinzu) und schon ist es ein Autist. Früher war es ADHS. Heute ist es Autismus. Diese Denkweise kursiert leider in vielen Köpfen. Einige dieser Köpfe kreisen immer mal wieder um Evan und mich herum. Wir neigen in diesen Momenten dazu, Bowling oder Kegeln zu spielen. Sehr gut, mein tapferes Schneiderlein. Gleich 7 auf einen Streich.

Ein anderes Kuriosum, welches ich in letzter Zeit erlebe und vielseitig in der Presse verfolge ist, das Autismus zu einer Art popkulturellen Phänomen geworden ist. Auf einmal ist jeder ein wenig autistisch. Möchte ein wenig autistisch sein. Autismus scheint in zu sein. Modern. Alle Autisten, zumindest Asperger Autisten, sind Software Genies oder Geeks. (Und plötzlich wollen alle Autisten sein, die Welt). Es gibt zahlreiche Online Tests, in denen man sich mal eben kurz auf Autismus testen kann. Öffentliche Selbstdiagnosen. Das Ergebnis – die Enddiagnose – erhält man dann am Ende des Testes. Nach nur 20 Minuten. Ach schade, ich bin doch kein Genie. Ich bin nur langweilig. Mist! Dabei handelt es sich um sehr präzise Ja und Nein Fragen wie “Ich bin lieber alleine als unter Menschen“ oderIch lege Wert auf Details“. Sehr aufschlussreiche und vielversprechende Fragen also. Ich hätte mir unsere Diagnostikprozedur – von 2 Jahren – sparen können und mir stattdessen einfach 20 Minuten Zeit nehmen sollen. 20 Minuten=2 Jahre=Scheiße, zu spät! Worüber ich jetzt ironisch philosophiere macht mich in Wahrheit traurig und wütend. Autismus wird verharmlost und nicht ernst genommen. Natürlich erfährt Autismus dadurch eine größere Aufmerksamkeit, ob dies allerdings zu einem besserem Verständnis und einem besseren Miteinander führt, ist fraglich.

In der Presse lese ich fast täglich einen neuen Sensationsartikel: Autismus, endlich heilbar. Alle scheinen sich auf aktuelle Studien berufen zu können. Man wird überflutet und verliert in dieser Informationsflut schnell den Überblick. Verzweifelte Eltern – ich schließe mich mit ein – klammern sich oft an den noch so kleinsten Strohhalm. Versprechen sich Besserung. Gefährliche und menschenunwürdige Therapiemethoden wie MMS oder ABA versprechen angebliche Besserung oder sogar Heilung. Heilung? Diese kann bekanntlich nur vollzogen werden, wenn eine Krankheit vorliegt. Ein Schnupfen (eine Krankheit) kann geheilt werden. Autismus? Ist keine Krankheit und kann daher auch nicht geheilt werden. Autistische Kinder sind nicht krank, denn Autismus ist weder heilbar noch ansteckend.

Autismus. Was in einigen Artikeln oder TV Serien belächelnd und komisch dargestellt wird, ist unser Leben. Unsere Realität. Autismus ist nur eine Diagnose. Es bestimmt unser Leben. Von morgens bis abends. Und in der Nacht. Für uns eine tägliche Herausforderung. Für mich Kraftsport. Ein permanentes „Auf der Hut sein“. Gewappnet sein. Mal eben kurz oder nur noch mal schnell gibt es bei uns nicht. Alles wird minuziös geplant und durchdacht. Alle bösen Überraschungen eliminiert – zumindest 2 von 10. Bevor ich das Auto parke wird automatisch die Umgebung gescannt. Gefahren werden umgangen. Leider bin ich weder Catwomen noch Superwomen und kann nicht alle Gegner, getarnt als Gefahren oder nicht stimmige Umstände, eliminieren. Eine für nicht Autisten nicht erwähnenswerte Kleinigkeit kann für Evan die Welt bedeuten und führt zu einem totalen Zusammenbruch, der gerne mit einem Trotzanfall verwechselt wird und mit einem beiläufigen Kopfschütteln abgetan wird. Von einem Kind, das im Rollstuhl sitzt, würde man nie erwarten, dass es laufen soll. Dieses auszusprechen wäre grauenvoll, völlig unangemessen, schlichtweg nicht akzeptabel. Warum also wird genau das immer und immer wieder von Evan verlangt bzw. erwartet? Ich würde mir wünschen, dass Evan als das wahrgenommen wird was er ist: Ein kleiner Junge, der Autist ist. Der weder immerwährende Trotzanfälle noch gemein gefährlich ist oder über ein hochgradiges Aggressionspotenzial verfügt.

Ich bin mir ganz sicher: Wenn Evan sprechen könnte, würde er mich argwöhnisch und äußerst skeptisch anschauen und sagen: Was hast Du denn? Ich bin total normal. Du bist komisch. Aber Mama, mach Dir keine Sorgen. Es ist okay anders zu sein. Evan würde noch kurz den Kopf schütteln und dann – mit seiner Gitarre in der Hand – weiterlaufen. Seinem Kikanichen und dem grünen Gummibärchen hinterher. Abenteuer erleben. Viel Spaß, kleiner Michel.

Autismus, das ist doch… Ich mag und kann den Satz nicht zu Ende bringen. Wir Menschen denken gerne in Schubladen. Wir fühlen uns wohl und sicher, wenn wir pauschalisieren können. Menschen oder Gegebenheiten, bestimmten Gruppen zuordnen können. Kennst Du den Fall, kennst Du alle. Viele Mitmenschen fragen mich immer wieder, ob ich mir ein gesundes Kind wünschen würde. Natürlich würde ich mich wünschen, dass Evan gesund ist. Sein halbes Herz über Nacht zu einem ganzen wird. Es gibt Tage – Momente – da schließe ich die Augen und träume davon mich einfach mal so – ganz spontan – im Eiskaffee mit Freunden zu treffen, inklusive Evan. An diesen bestimmten Tagen wünsche ich mir die alltäglichen Herausforderungen nicht ständig in kleine liebevolle Abenteuer umwandeln zu müssen. Aber mir Evan anders vorzustellen, das kann und will ich nicht. Der Autismus gehört zu Evan. Für mich ist es seine Wesensart. Fazit? Es gibt weder „den Autisten“, noch den „Nicht-Autisten“. Und das ist auch gut so.  Einzigartig. Unvergleichlich.

Das muss einfach (noch)mal gesagt werden.

„Ein rotzfreches Kind. Aggressiv. Nicht erzogen. Respektlos. Einfach nur widerlich. Der ist doch nicht behindert!“

Eine Szene, Worte, aus einem Film? Nein. Leider nicht. Eine Szene aus unserem Leben. Vorgestern am See. Evan hat zwei Damen mittleren Alters mit (etwas) Sand beworfen und nass gespritzt – was ich definitiv nicht billige. Ich habe mich sofort entschuldigt und Evan mit seinen GUK Gebärden zu verstehen gegeben, dass das nicht in Ordnung war.

Eine einmalige Szene? Nein. Leider nicht. Egal ob im Supermarkt, auf der Straße, im Park, auf dem Spielplatz, in der Eisdiele, am See, bei Freunden oder Bekannten, Evan verhält sich nicht gesellschaftskonform und angepasst. Sein Verhalten wird oft mit “Frechsein“, Aggressivität und Trotzanfällen verwechselt und mit einem beiläufigen Kopfschütteln bis hin zu gemeinen und menschenverachtenden Kommentaren sowie herablassenden Blicken abgetan. Und wissen Sie was? Das tut weh. Sehr weh sogar. Nicht immer prallen diese Kommentare und Verhaltensweisen an mir ab.

An alle Mitmenschen, Freunde, Familie und Wegbegleiter: Evan hat weder immerwährende Trotzanfälle noch ist er gemein gefährlich oder verfügt über ein hochgradiges Aggressionspotenzial. Durch die vielen Reize und Besonderheiten im Alltag kann man bei ihm eher von einer Reizüberflutung sprechen, die sein Verhalten in bestimmten Situationen auslösen. Hinzu kommt die fehlende (deutliche) Kommunikation, die einige Gegebenheiten noch verschlimmern können.

Natürlich muss auch Evan sich in der Gesellschaft an Grenzen und gewisse Regeln halten. Aber er wird sich nie gesellschaftskonform und den Erwartungen anderen entsprechend verhalten. Und wissen Sie was? Das muss er auch nicht. Von einem Kind, das im Rollstuhl sitzt, würde man nie erwarten, dass es laufen soll. Dieses auszusprechen wäre grauenvoll, völlig unangemessen, schlichtweg nicht akzeptabel. Warum also wird genau das immer und immer wieder von Evan verlangt bzw. erwartet? Nur weil er gesund aussieht?

Ich wünsche mir Mitmenschen, die uns nicht sofort verurteilen und mit herablassenden und völlig unangemessenen Kommentaren behelligen. Evan ist ein Teil dieser Gesellschaft und ich erwarte (wünsche mir), dass er auch als solches behandelt wird. Inklusion auf dem Papier ist nicht genug. Inklusion fängt in den Köpfen der Menschen an. Wer von vornherein nicht ausgegrenzt wird, der muss nicht erst integriert werden.

Auch wenn Evan in seinem Leben schon einige negative Erfahrungen, erleben musste, hat dieser wundervolle Junge die Gabe, liebevoll auf Menschen zuzugehen, sie einfach an die Hand zu nehmen und schlichtweg an das Gute in jedem Menschen zu glauben. Ganz ohne Vorbehalte. Egal welcher Abstammung, welche Behinderung oder welcher sozialen Schicht sie angehören. Ist das nicht großartig?! In solchen Momente wird mir bewusst, dass dieses kleine Menschenkind mir und vielen anderen so viel voraus hat.

Lass die Beine baumeln. Leg Dich mit Deinem Kind auf die Erde und betrachte den Himmel. Entspanne. Lauf barfuß durch das nasse Gras. Genieße den Wind, in den Haaren. Atme. Hab Spaß. Lach viel. Nähre Deinen Körper. Nähre Deine Seele. Klettere auf hohe Bäume und spring in tiefe Pfützen. (Julia Dibbern).

Einiges konnten wir heute erfüllen & erleben. Ich hoffe ihr auch.

Familie zu zweit.

Familie zu zweit! Macht Euch frei von gesellschaftlichen Zwängen und lasst Euch nicht das typische Familienbild aufdrängen. Lasst Euch nicht in Schubladen stecken, in die ihr nicht wollt. Nehmt keine Rollen an, die ihr nicht spielen möchtet. Befreit Euch von sämtlichen Bilderbüchern und schreibt Eure eigenen Familiengeschichten.