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Immer gleich ein Schattenkind?

Zwei kleine Jungs sitzen zusammen im Bett. Vertieft im Spiel. Jeder für sich aber doch gemeinsam. 

Meine zwei wundervollen Jungs. Brüder. Ein behindertes Kind und ein Schattenkind.

Ein Bild. Mehrere Ansichten. Mehrere Wahrnehmungen. Warum sehen wir Menschen oft so unterschiedliche Begebenheiten? Warum empfinden wir so unterschiedlich? Warum sind Geschwister eines behinderten Kindes immer gleich automatisch Schattenkinder?

Viele schwierige Fragen, die man nicht einfach mal eben so, mal eben zwischendurch, beantworten kann. Alles hat zwei Seiten. Viele Tatsachen, haben etliche Studien mit sich gezogen. Mir ist es wichtig zu betonen, dass ich nicht den Anspruch habe, all diese Studien zu wiederlegen noch möchte ich, nur mal eben schnell, schöne Phrasen zitieren, um zu beweisen, dass alles ganz anders ist. Ganz nach dem Motto: Ende gut, alles gut. Nein, das möchte ich nicht. Ich möchte auch nicht pauschalisieren. Natürlich bin ich mir bewusst, dass nicht alle Menschen so denken, wie ich es oben beschrieben habe. Ich kann nur für mich sprechen. Ich kann nur auf meine Empfindungen und Erfahrungen zurückgreifen. Da ich diese Aussagen aber sehr oft in meinem weiten Umfeld bemerke und mehr und mehr mit einigen Aussagen und Einstellungen konfrontiert werde, beschäftigt mich dieses Thema in letzter Zeit sehr. Ich mache mir viele Gedanken. Ist Evans kleiner Bruder ein Schattenkind? Leidet er permanent unter seinem Bruder? 

Schattenkind. Schattenkinder werden die Geschwisterkinder von einem Kind mit einer Behinderung genannt, da sie oft im Schatten des anderen Kindes stehen und dadurch im Alltag nicht so viel Beachtung erfahren. Ist Noah ein Schattenkind? Ich möchte mir selber diese Frage ehrlich beantworten. Ich bin ein sehr kritischer Mensch. Oftmals gehe ich zu hart mit mir ins Gericht. Aber es ist mir wichtig immer ehrlich zu mir selber zu sein. Nichts zu beschönigen. Nichts zu idealisieren. Nichts schön zu reden und alle Seiten zu beleuchten. Und das möchte ich auch in diesem Falle tun. Ist Evans kleiner Bruder ein Schattenkind?

Es gibt viele schwierige, sehr belastende, Phasen und Momente. Tage, die nicht gut laufen und Evan sehr viel Aufmerksamkeit braucht. Tage, an denen ich besonders aufpassen muss, da Evan gereizt ist. Stunden, in denen Noah zu kurz kommt. Ausflüge, die nach ein paar Minuten abgebrochen werden müssen, da es nicht funktioniert. Laute Momente zu Hause, die belastend sind. An diesen Tagen benötigt Evan sehr viel Aufmerksamkeit und Pflege. Es ist eine Tatsache, dass ein Kind mit Besonderheiten sehr viel Wachsamkeit und Hingabe benötigt. So ist es auch bei uns. Vieles dauert mit Evan einfach länger. Vieles gestaltet sich schwierig. Mal eben so, geht bei uns nicht. Ich glaube in diesen Momenten steht Noah im Schatten seines Bruders. In diesen Momenten kann ich mich nicht so um Noah kümmern, wie ich es gerne würde und wie er es in diesen Momenten eigentlich benötigt.

Es ist schwierig, unmöglich, immer beiden Kindern gerecht zu werden. Aber genauso gibt es die Tage, an denen weniger Zeit für Evan bleibt. Momente, die für Evan schwer zu ertragen sind, da sein Bruder schreit oder weint und Evan lernen muss, sich zu gedulden. Momente, in denen Evan im Schatten seines kleinen Bruders steht. Es ist ein Balanceakt, immer zu schauen was welches Kind gerade braucht. Immer wachsam zu sein und einzuschätzen, wer wie viel Aufmerksamkeit und Zuwendung benötigt. Ich glaube dieses Problem kennen alle Eltern – egal ob mit oder ohne Behinderung. Natürlich ist die Gefahr bei einem Kind mit einer Behinderung größer, da das besondere Menschenkind oft viel mehr Aufwendung und Zeit benötigt, als das nicht behinderte Geschwisterkind. Aber bedeutet weniger Zeit, immer direkt im Schatten zu stehen? Direkt ein Schattenkind zu sein? Geht die Gleichung:

Behindertes Kind = Geschwister Schattenkind

immer auf?

Ehrlich gesagt, glaube ich es nicht. Ich wehre mich vehement gegen den automatischen Stempel „Schattenkind“. Ich finde es sehr wichtig, in dem Bewusstsein zu leben, dass es Schattenkinder gibt und geeingnte Hilfe und Therapien bereit gestellt werden. Aber nicht jedes Kind ist direkt – immer – ein Schattenkind. Oft werden wir Menschen mit negativen Glaubenssätzen groß, die wir schon als Kind gelernt haben oder immer und immer wieder von der Gesellschaft vorgetragen bekommen. Ein anderer sehr gängiger negativer Glaubenssatz, den ich öfter zu hören bekommen ist, dass eine Behinderung immer direkt die Lebensqualität mindert. Auch ein Glaubenssatzt, den ich ablehne. Ich möchte weder, dass Noah direkt als Schattenkind bezeichnet noch dass Evans Lebensqualität als vermindert dargestellt wird.

Egal wie schwer der Alltag mit Evan an manchen Tagen ist, fühle ich doch ganz tief in meinem Herzen, dass Evan eine Bereicherung für Noah ist. Für Noah ist es normal, mit einem behinderten Bruder groß zu werden. Für ihn ist es normal, in gewissen Situationen Rücksicht zu nehmen und Verständnis zu haben. Ich finde es gibt durchaus schlimmeres, als mit diesen Werten groß zu werden. Noah wächst mit vielen wunderbaren und besonderen Menschen auf. Noahs Leben ist sehr bunt, oft chaotisch, manchmal etwas zu laut aber immer voller Liebe, Zuneigung und Ehrlichkeit. Ich kann nur im Moment für Evans kleinen Bruder sprechen und natürlich nicht mit Gewissheit sagen, ob er genauso empfindet wie ich es beschreibe. Aber ich versuche, genau zu beobachten und zurzeit ist das mein Gefühl. Ich werde immer versuchen, wachsam zu sein und genau Acht geben was diese beiden wunderbaren Menschenkinder gerade ganz individuell benötigen und versuchen danach zu handeln. Ich möchte, dass meine Kinder mit dem Gefühl groß werden, selber und eigenmächtig über sich bestimmen zu können und mit keinen negativen Glaubenssätze groß werden. Manchmal werden wir im Leben zu dem gemacht, was die Gesellschaft von uns denkt bzw. uns aufdrängt. So mehr man hört was man angeblich ist, umso mehr kann es sich in den eigenen Gedanken festsetzen.

Ich möchte diese negativen Glaubenssätze überwinden. Ich lasse Noah nicht direkt zu einem Schattenkind machen. Meine Kinder bekommen keinen Stempel der Gesellschaft aufgedrängt. Ich lasse mir keinen Stempel aufdrängen. Wir Menschen sind so viel mehr als Glaubenssätze.

Evan und Noah, ihr seid so viel mehr als irgendwelche Glaubenssätze.

Leben und leben lassen.

“Das Kind muss mindestens bis zur Vollendung des 1. Geburtstages gestillt werden. Besser ist natürlich bis zum Erreichen des 3. Geburtstages. In die Kita sollte das Kind gar nicht gehen. Auf jeden Fall nicht vor 2 Jahren. Am besten geht es erst mit 3 in den Kindergarten und dann auch nur bis 12 Uhr, denn das Essen zu Hause ist am besten. Wenn es nicht mindestens 12 Stunden am Tag mit der Mutter verbringt, wird das Kind mit aller höchster Wahrscheinlichkeit starke Verhaltensauffälligkeiten wie beißen oder zu hohes Singen in Form von sehr lauten Geräuschen aufweisen. Arbeiten? Das ist ja sowieso die Aufgabe des Mannes. Der versorgt die Familie. Wenn die Frau unbedingt will, kann sie 3 Stunden am Vormittag arbeiten. Solange das Kind im Kindergarten ist. Es gibt ja genug verständnisvolle und flexible Arbeitgeber. Als selbstverständlich gesehen, ist das tägliche Lüften – mindestens 1,5 Stunden – der Kinder in Form von Spaziergängen oder Spielplatzaufenthalten. Das mütterliche Handy ist bei dieser Aktivität natürlich streng verboten. Ablenkungen jeglicher Art müssen vermieden werden. Zudem sind die Handystrahlen hoch gefährlich. Mc Donald Besuche sind, das erklärt sich von alleine, nicht gestattet. Jeden Tag werden frisch gekochte Mahlzeiten mit natürlichen Inhaltsstoffen und Bioprodukten erwartet.  Sonnencremes werden nur in der Apotheke gekauft, da sie keine chemischen Inhaltsstoffe beinhalten. Das Kinderzimmer sollte nur mit Holzspielzeug und Biobaumalle ausgestattet sein. Fernseh-Berieselungen sämtlicher Art müssen vermieden werden, es sei denn sie fördern die kognitive Entwicklung des Kindes. Kleidung mit Kugelschreiber großen Flecken müssen sofort gewaschen werden. Ein tägliches Bad und die gründliche Reinigung der Kinder müssen gewährleistet sein. Zu kurze Hosenbeine können erste Anzeichen einer leichten Verwahrlosung sein. Die Mutter hat sich ganz und gar den Kindern und der Familie zu widmen und hat das Recht eines selbstbestimmten Lebens mit der Entscheidung Kinder zu haben, erstmal für die nächsten 18 Jahre abgegeben. Punkt.”

Ich sitze hier. Die Gesellschaft sitzt mir gegenüber. Ich habe Platz genommen auf der Anklagebank. So fühle ich mich des öfteren. Die aufgeführten Anschuldigungen und Behauptungen sind veraltet? Davon bin ich auch ausgegangen aber ich werde in letzter Zeit immer wieder und häufiger eines Besseren belert. Natürlich sind die oben aufgezählten Behauptungen übertrieben dargestellt aber, ob man es mir glauben mag oder nicht, sie sind mir alle schon zu Ohren gekommen. Jeder Mensch hat seine Ansichten und Einstellungen und das finde ich völlig normal und legitim. Was der Eine macht, muss der Andere nicht gut finden. Allerdings sollte der Respekt und die Akzeptanz füreinander da sein. Das Verständnis der Andersartigkeit. Ich erlebe es in letzter Zeit sehr oft, dass, ohne groß nachzudenken (und ungefragt), Ansichten in den Raum geworfen werden, die mich verletzten und ärgern. Aussagen wie: 

“Kinder sollten nicht in die Kita gehen”. “Die Mutter muss immer da sein”. “Man muss sein Leben hintenanstellen”. “Arbeiten und Karriere geht mit Kindern nicht”. “Du gehst zu Mc Donald?!!!”. “Du kaufst nicht nur Bio Produkte?!!!!”. “Du lässt Deine Kindern am Nachmittag betreuen?!”.

Alles Aussagen, die man mit einem Lachen oder einem Schulterzucken wegwischen kann, oder? Eigentlich schon. Eigentlich. Denn manchmal treffen sie mitten ins Herz. 4 oder 5 Wörter, die so eine große Bedeutung haben. Warum eigentlich? Ich weiß, dass ich mich nicht rechtfertigen muss. Darum geht es mir in erster Linie auch gar nicht. Es ist mein Leben. Aber es ärgert mich, dass in diesen Ansichten und Aussagen immer eine Wertung bzw. Abwertung stattfindet. Oftmals sind es die eigenen Lebensumstände, die unsere Entscheidungen im Leben prägen und mitgestalten. Wären die Umstände anders, vielleicht würde man andere Entscheidung treffen. Vielleicht ist man manchmal selber nicht glücklich über die Entscheidungen aber das Leben und die Umstände lassen es nicht anders zu. Umso mehr verletzen mich die leichtfertigen, mal eben schnell gesagten, Äußerungen. 

“Oh, das tut mir leid. Das wollte ich nicht, ich meinte ja nur mal eben…” – ich weiß, dass die meisten Aussagen nicht aus Böswilligkeit gesagt werden. Ich kann mich selber nicht freisprechen. Wie oft ertappe ich mich dabei, “mal eben so”, etwas zu sagen. “Mal eben so”, meine Meinung zu äußern ohne wirklich zu wissen, worum es eigentlich geht. Ohne das Leben der anderen Mitmenschen zu kennen. Seit Evan auf der Welt ist, bin ich vorsichtiger geworden. Vorsichtiger mit “mal eben” oder “nur mal eben” sagen. Denn ich weiß, wie sehr das “mal eben” verletzen kann.

Hätte ich früher ein Foto von mir auf der Anklagebank veröffentlicht, hätte ich in einem Kuhstall auf einer alten Bank mit gesenktem Blick und nicht gemachten Haaren gesessen. Heute sitze ich in einem Saal, in einem Mini Rock, mit roten Lippenstift und lache in die Kamera. Ich habe gelernt. Dazugelernt. Natürlich habe ich noch die stillen, traurigen, ärgerlichen, verzweifelten Momente im Kuhstall aber ich habe mein Leben und die Entscheidungen sowie äußeren Umstände, die mein Leben mit sich bringen, angenommen. Daher kann ich heute leichter mit „nur mal eben so“ Äußerungen umgehen.

Ich wünsche mir, dass ein Bewusstsein dafür entsteht, dass man mit – vielleicht sogar – gut gemeinten Ratschlägen oder leichtfertigen Aussagen, sehr schnell Mitmenschen verletzten kann. Man muss zudem nicht immer seine Meinung äußern oder anderen Menschen diese aufdrängen. Es ist okay, diese für sich zu behalten. Ich bin mir sicher, dass wir alle in der Überzeugung leben, das Richtige für uns, unsere Kinder und unsere Familie zu tun.

In diesem Sinne: Leben und leben lassen. Punkt.  

 

Stuhlkreis.

Manchmal bleiben Sitzplätze in unserem Leben leer. Egal wie sehr wir sie besetzen möchten, sie bleiben leer. Vielleicht aus einem guten Grund, vielleicht aber auch einfach nur so. Diese Sitzplätze sind oft Stellvertreter in unserem Leben, zumindest in meinem Leben. In meinem Fall sind es die Erwartungen. Überall lauern sie. Mal ganz offensichtlich, mal versteckt. Gerade zu der Weihnachtszeit kann ich diese gut spüren. Ehrlich gesagt springen sie mich regelrecht an und kleben an mir. Egal wie sehr ich mich schüttel, sie kleben und kleben. So marschiere ich dann in die Weihnachtszeit – voll mit Erwartungen. Das kann ja nur schiefgehen. Und was soll ich sagen? So ist es auch. Ich habe so viele Erwartungen an mich und an das Fest, dass ich im Vorfeld schon sicher bin, dass diese nicht im Geringsten erfüllt werden können. In die Kirche gehen (das mache ich nicht nur an Weihnachten gerne), in Ruhe und mit einer Gelassenheit das Fest genießen, Freunde und Familien besuchen. All das sind Dinge, die ich nicht nur an Weihnachten aber ganz besonders am 24., 25, und 26. Dezember machen würde. Viele dieser Erwartungen gehen nicht in Erfüllung – das liegt zum einen an Evans Besonderheiten und zum anderen an der Tatsache, dass das Leben nicht immer so mitspielt, wie ich es gerne hätte.

Ich merke immer mehr, dass ich mich in vielen verschiedenen Bereichen extrem unter Druck setze. Ich möchte allen und jedem gerecht werden. Während der Weihnachtszeit schiele ich in fremde Häuser und male mir aus wie perfekt deren Weihnachtsfest wohl sein mag. Wie idyllisch es wohl bei ihnen an Heiligabend zugeht.

Die Kinder sind bestimmt gerade dabei Ihr Weihnachtskonzert vor dem perfekten Weihnachtsbaum, mit echten Kerzen versteht sich, zu halten. Gekleidet wie der kleine Lord und das doppelte Lottchen. Gefeiert von der Familie, die sich lachend mit Champagner zuprosten. Das Essen steht schon auf dem Tisch und die perfekt verpackten Geschenke stapeln sich vor dem wunderschönen Weihnachtsbaum. Alle Familienmitglieder sind tiefenentspannt und strahlen um die Wette. 

Ich bin so sehr geblendet von dieser Liebe, dass ich aus meinem Tagtraum aufwache und beinahe über meine eigenen Füße stolpere. Der kleine Bruder schreit mittlerweile wie am Spieß und der große Bruder? Ja, wo ist der überhaupt? In dem Moment sichte ich Evan, den kleinen Blondschopf, gerade noch hinter dem Gartenzaun der Nachbarn verschwinden. Schreiend läuft er den Schafen hinterher. Die Schuhe und die Jacke hat er sich natürlich vorher ausgezogen – die stören bei der Verfolgungsjagd ja auch nur. Während ich versuche den kleinen Bruder zu beruhigen und Evan wieder einzufangen, schweifen meine Gedanken wieder ab und ich denke an die anderen Familien. Ich bin mir sicher, genauso oder so ähnlich wie in meinen Vorstellungen wird es in den Stuben der anderen Häuser in unserem Dorf zugehen.

Bei uns? Geht es leider nicht ganz so idyllisch zu. Natürlich weiß ich, dass sich der Weihnachtsabend nicht überall so friedsam gestaltet. Aber was ist falsch daran, sich einmal im Jahr ein wenig Bilderbuchidylle zu wünschen? Ich finde gar nichts. Nichtsdestotrotz ist es wichtig, sich immer wieder darauf zu besinnen wie reich man beschenkt ist. Den Blick von dem abzuwenden, was fehlt und darauf zu schauen, was man hat. Nicht immer dem hinterhertrauern was nicht da ist, sondern das was man hat, mit offenen Armen zu empfangen. Nicht zu vergleichen was die anderen vielleicht haben mögen, vielmehr das zu feiern, was man wirklich in den Händen hält oder im Herzen trägt.

Als ich vor ein paar Tagen ins Wohnzimmer gekommen bin, habe ich Evan dabei beobachtet, wie er sich einen Stuhlkreis aufgebaut hat. Ganz selbstverständlich hat er die Plätze mit seiner geliebten Leihhündin, seinem (nicht immer so geliebten) kleinen Bruder und einigen anderen Gegenständen besetzt. Evan überlegt nicht lange, sondern bedient sich der Personen und Gegenstände, die für ihn zugänglich sind. Er trauert nicht darüber wer oder was nicht in seinem Stuhlkreis Platz findet. Nein, ganz im Gegenteil. Er freut sich über die Personen und Gegenstände, die dabei sind. Bedingungslos. Ohne traurig oder enttäuscht zu sein. Er nimmt die Dinge, wie sie kommen. Er akzeptiert die Gegebenheiten wie sie sind. Er hat keine großen Erwartungen, sondern freut sich immer über das was er gerade hat und für ihn erreichbar ist.

Mal wieder hat mir Evan ein wenig die Augen geöffnet. Mal wieder hat er mir gezeigt, worauf es wirklich im Leben ankommt. Natürlich darf man sich wünschen, dass es manchmal anders läuft oder traurig sein, wenn etwas nicht so ist, wie man es gerne hätte. Aber ich glaube es ist genauso wichtig, wenn nicht sogar wichtiger, sich über das zu freuen, was man besitzt. Ich fange an zu lernen, dass es okay ist, wenn nicht alle Stühle in meinem Leben besetzt sind. Denn es kommt nicht darauf an wie viele Stühle besetzt sind, sondern wer darauf Platz nimmt. Egal wie chaotisch unser Leben oder Weihnachtsfest auch ist. Es sind unsere Traditionen. Es ist unser Leben – und das ist nicht weniger wert, nur weil es anders ist. 

 

Ein Kind ohne Vorzeige-Behinderung

Ich glaube weder an Schubladen noch an Klassen. Aber manchmal lehrt einem das Leben etwas anderes. Was macht man, wenn man kein Kind mit einer Vorzeige-Behinderung hat? Was macht man, wenn das eigene Kind nicht von der beliebtesten Cheerleaderin zum Prom eingeladen wird oder kein Football Star ist, der am Ende des Spieles die Möglichkeit zu einem Touchdown erhält?

„Das ist aber eine niedliche Behinderung“ – Diesen Satz habe ich schon oft gehört. Glauben Sie nicht? Das kann ich mir vorstellen, aber es stimmt! Zwar nicht bei Evan aber bei anderen besonderen Kindern. Es scheint eine Klassengesellschaft der Behinderung zu geben. Die Behinderung oder besser gesagt die Behinderten scheinen in verschiedene Gruppen aufgeteilt zu sein. Die Gruppen, die ich bis jetzt entdeckt habe, sind: Die niedlichen Behinderten, die zutiefst mitleiderregenden Behinderten und die schrecklichen Behinderten zu der auch die Untergruppe „die sehen ja komplett gesund aus und sind nur falsch erzogen“ Behinderten gehören. Zu dieser Gruppe scheinen wir zu gehören. 

Es gibt behinderte Kinder und Jugendliche, die in Social Media Kanälen gefeiert werden, da sie ein gutes Beispiel für gelungene Integration und Inklusion sind. Meistens handelt es sich dabei um die „niedliche Behinderung“. Für diese Kinder gibt es eine Menge Freizeitangebote oder Veranstaltungen. Diese Kinder werden gerne in Kindergärten oder Schulen aufgenommen. Die Städte und politische Parteien loben und feiern sich beim Anschauen dieser Kanäle.

Ganz nach dem Motto: Barrierefrei in Stadt Mustermann! 

Und es gibt die Anderen. Die Kinder, die nicht im Internet zu sehen sind. Für die es keine Freizeitangebote oder Veranstaltungen noch Ferienprogramme gibt. Für die es wenig passende Kindergartenplätze oder geeignete Schulen gibt. Diese Kinder sieht man selten auf den Social Media Kanälen, da sie kein gutes Beispiel für gelungene Integration sind und sich dadurch nicht so gut im Internet präsentieren.

Es gibt Kinder, die eine unangenehme Behinderung haben. Eine Behinderung, die von der Politik oder Stadt und der Gesellschaft nicht so einfach „weggelacht“ werden kann. Eine Behinderung, die nicht in einem Slogan oder Werbespot passt. Eine Behinderung, die sich nicht so gut in Reportagen oder Dokumentationen verkaufen lässt. Kinder mit dieser Behinderung, kann man nicht einfach so, mal nebenbei, inkludieren oder integrieren. Kinder mit einer nicht so niedlichen Behinderung.

Mein kleiner Michel, Evan, ist so ein Kind. Das andere Kind. Ein Kind, welches meistens durch das Raster fällt. Ein Kind, das irgendwie nirgendwo so richtig dazugehört. Ein Kind, für das es fast bis gar keine Freizeitmöglichkeiten, Ferienprogramme oder Veranstaltungen gibt. Kein Beispiel-Kind für eine gelungene Inklusion und Integration. Kein Kind, welches in einer Dokumentation in die Kamera lacht und von seinen Fußballfreunden für das Tor in der letzten Minute bejubeld und gefeiert wird.

Für mich wäre es völlig okay, wenn Evan nicht dazu gehören möchte. Er muss keine sozialen Kontakte pflegen oder Veranstaltungen besuchen, wenn er es nicht möchte. Aber er möchte. Evan ist ein kleiner geselliger Junge, der gerne Abenteuer erlebt und überall mit mischen möchte. Was aber macht man, wenn er es nirgendwo so richtig kann? Wie geht man damit um?

Ehrlich gesagt, bricht es mir das Herz. Ich wünsche mir vom tiefsten Herzen, dass es Angebote, Möglichkeiten und Chancen für alle Kinder, Jugendliche und erwachsene Personen gibt. Egal ob mit Behinderung oder ohne. Egal ob mit einer Vorzeige-Behinderung oder einer nicht so „gesellschaftsfähigen“ Behinderung. Heutzutage darf es doch nicht mehr darum gehen, behinderten Menschen Mitleid entgegen zu bringen und sie nach guten und angemessen Maßstäben unterzubringen und zu beschäftigen. Es muss um die gleichberechtigte Teilhabe und Gleichberechtigung gehen. Es sollten nicht nur um die Möglichkeit der Sondereinrichtung gehen, sondern es muss möglich sein, ein Leben in Selbstbestimmung wählen zu können. Behinderte Menschen müssen wirklich integriert und nicht nur geduldet werden. Barrierfrei sollte kein besonderes Merkmal einer Stadt sein, sondern eine Selbstverständlichkeit.

Zudem darf man sich nicht nur auf die guten, werbewirksamen Beispiele konzentrieren. Die Menschen, die gut in einem Slogan passen, sondern auch hinter den Vorhang schauen. Wirklich hinschauen. Mit Eltern, den „wirklichen“ Experten sprechen. Gemeinsam nach einer individuellen Lösung schauen, als nur in Schubladen oder Klassen zu denken. Ich weiß, dass es nicht mit einem Fingerschnipsen möglich ist. Dass es personelle und finanzielle Mittel und viel Zeit benötigt. Sowie die passenden Rahmenbedingungen. Aber ein offener Austausch und wirkliches Interesse an Lösungen wäre ein Anfang. Ich habe meine eigenen persönlichen Erfahrungen mit unserer Stadt gemacht und mir ist es wichtig, nicht alles schlecht reden zu wollen. Unsere Stadt hat Angebote für Menschen mit einer Behinderung aber leider nicht für alle. Für Kinder, wie Evan, die nicht in eine Formel oder eine Schublade passen, wird es schwierig. Was so viel bedeutet wie: es gibt nichts. Viele Gespräche verlaufen im Sande. Es wird nicht richtig zugehört. Außer ein freundliches Lächeln passiert nichts. Sätze wie:

„Frau Becker, denken Sie nicht, dass sie in einem Supermarkt sind und Auswahl haben. Wir suchen für sie aus.“

musste ich mir anhören. Das heißt so viel wie, wir essen jeden Tag nur noch Bohnen oder müssen hungern. Na, danke! Sozialträger, die über Evan entscheiden, ohne ihn je persönlich kennengelernt zu haben. All das sind Beispiele für eine nicht gelungene Integration. Es reicht nicht, dass es auf dem Papier Angebote für behinderte Menschen gibt, sie müssen auch in der Wirklichkeit, im echten Leben, durchsetztbar und realsierbar sein.

Trotzdem halte ich an den Glauben der Integration fest. Ich lasse ihn nicht los. Egal wie wenig ich in der Hand habe, ich lasse nicht los. Ich wünsche mir sehr, dass jeder Mensch, die Möglichkeit erhält, sich einzubringen. Eine faire Chance erhält, dass zu machen, was er möchte. Die Interessen zu verfolgen, die ihn/sie anregen und nicht durch irgendwelche Rahmenbedingungen daran gehindert werden. Ja, das ist eine Menge Arbeit. Aber es ist Zeit für Veränderung. Vielleicht noch nicht für die Großen aber zumindest für die Kleinen. Vielleicht auch erst für die ganz, ganz, kleinen Veränderungen. Aber egal wie klein und zaghaft die Veränderungen sind, es sind Veränderungen. Es ist ein Anfang.  

Mein lieber Evan, Du bist wundervoll wunderbar. Du bist geliebt, gewollt und genau richtig so wie Du bist. Bitte lass Dir nie, niemals, einreden, dass mit Dir etwas nicht stimmt. Du bist großartig perfekt so wie Du bist. Deine Mama. 

 

 

Seelenstriptease

Seelenstriptease. Sich ausziehen. In der Öffentlichkeit. Sich in der Öffentlichkeit öffentlich ausziehen. Warum mache ich das eigentlich? Nein, ich ziehe mich nicht öffentlich aus aber ich schreibe öffentlich über unser Leben und über meine Gefühle. Seelenstriptease, so könnte man es nennen. Ich stelle mir immer mal wieder diese Frage:

Marcella, warum machst Du das eigentlich? Und um ehrlich zu sein, ist es im Grunde ganz einfach:

Um aufzuklären. Um Vorurteile abzuschaffen. Um Verständnis zu erhalten und zu schaffen. Um Anderen und mir Mut zu machen. Um eine Natürlichkeit und kein Mitleid zu erwirken. Um willkommen zu sein und nicht ausgeschlossen zu werden. Um zu informieren.

So ist es, glaube ich zumindest, ganz kompakt zusammengefasst. Ich habe mit diesem Blog angefangen, als ich an einem Wendepunkt in meinem Leben stand. Ehrlich gesagt, wusste ich nicht mehr weiter. In dieser Zeit habe ich mich nur noch mit meinem selbstbedrucktem T-Shirt

„Mein Sohn ist weder frech noch bin ich überfordert. Mein Sohn ist Autist“

aus dem Haus getraut. Entweder wäre ich innerlich eingegangen oder ich wäre geplatzt – vor Wut, vor Traurigkeit, vor Verzweiflung, vor Ungerechtigkeit – und das hätte definitiv äußerlich einige Spuren hinterlassen. Ich habe mich in dieser Zeit in der Öffentlichkeit nicht mehr wohlgefühlt. Überall sind wir negativ aufgefallen und mussten uns rechtfertigen – das war zumindest mein Eindruck und Gefühl. Manchmal ging es sogar schon so weit, dass wir beschimpft und beleidigt wurden.  

Irgendwann in dieser schweren Zeit habe ich mich gefragt, wie es weitergehen kann. Welche andere Möglichkeit bleibt mir noch? Was kann ich machen, damit es mir und Evan besser ergehen kann? Und dann von heute auf morgen, habe ich mich hingesetzt und habe geschrieben. Ich habe all meine Gedanken, Gefühle, Erfahrungen, Wut, Verzweiflung, Freude und meinen Kummer auf Papier gebracht. In meinem Falle trifft es gut zu: sich den Ballast von der Seele zu schreiben. Danach fühlte ich mich befreiter. Irgendwie aufgeräumter. Es ging mir nicht auf einmal super gut, aber ich fühlte mich sortierter. Der Anfang zu unserem Blog war geschaffen. Dies wusste ich in dem Moment allerdings noch nicht, da ich diese intimen Gedanken erstmal nur für mich behalten wollte. Für mich ist es zu einem Ritual geworden, mich jeden Abend hinzusetzen und zu schreiben. Für das abendliche Schreibritual habe ich sogar Verabredungen und Veranstaltungen abgesagt. Wer mich kennt weiß, dass ich ein sehr sozialer Mensch bin – diese Entwicklung hatte also etwas zu bedeuten.   

Mit dem Schreiben fing ich automatisch an, meine Einstellung zu unserem Leben und zu Evans Behinderung zu ändern. Den Blickwinkel zu wechseln. Ich habe vorher nicht offen über Evans Behinderung sprechen können. Auf die Besonderheit angesprochen, habe ich meistens so herumgedruckst. Mich entschuldigt. Ich habe versucht dem Thema so wenig Raum wie möglich zu geben. Immer irgendwie in der Hoffnung, dass es dann von alleine verschwindet. Allerdings, wie sollte es auch anders sein, ist das Gegenteil passiert. Die Behinderung hat immer mehr Raum eingenommen. So viel, dass ich zu verschwinden drohte.

Irgendwann wurde aus offline dann online. Irgendwann habe ich mich entschlossen, meine Erfahrungen zu teilen. Ich habe an meinem Umfeld gemerkt, dass es noch anderen Menschen so ergeht wie mir. Warum also nicht meine Erfahrungen mit Anderen, Gleichgesinnten, teilen? Zudem habe ich immer mehr und mehr Fragen über Evan und über sein Verhalten gestellt bekommen. Ich habe eine große Unwissenheit, eine Beklommenheit, dem Besonderen gegenüber gespürt. 

Einen Blog über ein so intimes und persönliches Thema zu betreiben, fühlt sich oft wie ein Seelenstriptease an. Irgendwie ist man angezogen nackt. Fremde Menschen lesen private und intime Situationen aus unserem Leben aber mir war und ist es immer noch sehr wichtig authentisch zu sein. Ich möchte nicht nur – die Betonung liegt auf dem nicht nur, da ich es hin und wieder doch gerne tue – schöne Bilder posten und witzige Artikel schreiben. Schreiben wie gut es uns immer geht und wie wenig uns Evans Behinderung beeinträchtigt. Schreiben in welch einer Idylle wir leben. Schreiben, dass wir nie verzweifelt sind. Nein, ich möchte ehrlich schreiben wie es uns ergeht und was mich bewegt. Ehrlich sein und ehrlich bleiben. Oftmals habe ich dafür schon Kritik einstecken müssen und das ist völlig in Ordnung. Nicht jeder muss gut finden was und wie ich schreibe. Ich muss mich in den Artikeln wiederfinden und das mache ich immer mit dem Blick auf Evan. Bis jetzt funktioniert es für mich. Für uns. Ich versuche immer so zu schreiben, dass es in Evans Sinne ist. Ich möchte ihn nicht bloßstellen noch möchte ich ihn vorführen. Manchmal ist es ein schmaler Grat zwischen Ehrlichkeit und Vorführen. Aber ich habe mich entschieden diesen Weg der Öffentlichkeit zu gehen. Ich fühle, dass es unser Weg ist. Ich fühle, dass Evan mich bei jedem Artikel trägt und meine Hand hält. 

Ich möchte Menschen mit meinen Artikeln erreichen. Ich möchte Ihnen zeigen, wie das Leben mit einem behinderten Kind ist. Nicht immer einfach, manchmal zum Erschöpfen, hin und wieder zum Verzweifeln aber immer mit voller Liebe und Hingabe. Evan ist ein wunderbarer Mensch, der sich nicht durch seine Besonderheit auszeichnet. Er ist so wie er ist. Ich würde mir Evan keinen Moment dieser Welt anders wünschen. Das meine ich völlig ehrlich. Ich wünsche mir hin und wieder andere Rahmenbedingungen aber sich Evan anders vorzustellen, ist für mich undenkbar. Jeden Tag aufs Neue betrachte ich diesen wundervollen Junge mit Liebe. Er hat mir viele andere Seiten des Lebens gezeigt, die ich sonst nie zu Gesicht bekommen hätte. Das mag alles wie in einem Kiosk Taschenbuchroman für einen Euro klingen, aber es ist mein völliger ernst. Egal wie anstrengend der Tag auch war, am Abend bin ich unendlich dankbar, dass ich Evan in meinem Leben habe.

Ich habe einen Wunsch für Evan. Ich möchte, dass Evan so akzeptiert und respektiert wird wie er ist. Ich wünsche mir, dass nicht seine Behinderung, sondern seine Persönlichkeit im Vordergrund steht. Ich wünsche mir, dass Menschen Wege finden, um mit Evan zu kommunizieren und ihn nicht ausschließen. Ich wünsche mir, dass Evan erwünscht ist und nicht ertragen wird. Ich wünsche mir für Evan, dass er nicht nur aus schlechtem Gewissen miteinbezogen wird, sondern eine Bereicherung für die Menschen ist. Ich wünsche mir, dass Evan die gleiche faire Chance erhält wie andere Kinder in seinem Alter. Ich wünsche mir, dass Evan als junger Mann ein selbstbestimmtes und menschenwürdiges Leben leben kann.

Wenn ich nur einen Menschen mit meinen Artikeln erreiche, einen Menschen, der offen auf Evan oder andere Menschen mit einer Behinderung zugeht und versucht hinter die Fassade zu blicken, dann habe ich mein Ziel erreicht. Dann bin ich glücklich. Jeder Mensch hat eine Würde und das Recht so angenommen zu werden wie er/sie ist. Der menschliche Wert darf sich nicht durch seine gesellschaftliche Leistung definieren. Jeder trägt auf seine Weise zu der Gesellschaft bei und das hat rein gar nichts mit seiner sichtbaren Leistung zu tun. Ich möchte nicht den Glauben an die Menschheit verlieren. Das Schreiben hilft mir dabei. Sehr sogar. Und ganz ehrlich, dafür ziehe ich mich gerne aus!

In diesem Sinne, auf die nackten Tatsachen, die je nach Lichteinfluss, manchmal ein kleines bisschen mehr schön und manchmal ein kleines bisschen weniger schön anzusehen sind – aber immer einen ehrlichen Blick auf das Leben geben.

Herzlichst, Marcella

 

 

Hallo Angst, ich heiße Dich willkommen!

Es ist früh am Morgen und ich höre ein Klopfen. Erst ganz leise und dann wird es immer lauter. Ich versuche wegzuhören aber ich schaffe es nicht. Ich drehe mich um und versuche wieder einzuschlafen. Klopf. Klopf. Man kann es nicht ignorieren. So gut ich es auch versuche, ein Klopfen bleibt ein Klopfen. Ich stehe auf und gehe langsam zur Tür. Immer noch in der Hoffnung, dass ich mich verhöre aber das Klopfen wird lauter. Ich mache die Tür auf und die „Angst“ begrüßt mich freudestrahlend. Ohne mich zu fragen, stürmt sie herein und macht es sich direkt auf meinem Sessel in der Küche gemütlich. Sie fragt gar nicht erst, ob sie einen Kaffee darf, sie macht sich ihn direkt selber. Ganz selbstverständlich sitzt sie da und trinkt genüsslich ihren Kaffee. Ich setze mich dazu und höre zu wie sie erzählt. Ich komme gar nicht erst zu Wort. Ich werde nichts gefragt. Sofort wird mir bewußt – so schnell werde ich sie nicht wieder los.  

Evans Herzfehler rückt durch seine andere Besonderheit sehr oft in den Hintergrund. Manchmal vergesse ich seinen Herzfehler in unserem Alltag sogar. Aber nur manchmal. Denn es gibt auch diese anderen Tage. Tage, an denen die Angst und die Sorgen zurückkehren. Leise an die Tür klopfen. Ganz bedacht und zurückhaltend – denkt man. Denn in der Wirklichkeit ist die Zurückhaltung eher Schein. Das leise Klopfen eher scheinheilig. Durch ihr zurückhaltendes aber aufdringliches Klopfen gewähren sich die Angst und die Sorge eintritt. Sie sitzen auf meinen Schultern und verweilen dort. Egal wie sehr ich mich wehre, sie bleiben da. Sie nisten sich ein. Sie machen es sich gemütlich.

Ein kleines Husten, ein leichter Schnupfen und schon sind sie da. Die Angst und die Sorgen. Von jetzt auf gleich wird mir wieder bewusst, dass Evan nur mit einem halben Herzen lebt. Auf einmal fallen mir seine blauen Lippen und seine blauen Fingernägel auf. Er sieht blass aus. Ist er vielleicht krank? Geht es ihm gut? Was macht sein Herz? Das Gedankenkarusell fängt an sich zu drehen. Ich bin Fahrgast, ohne dass ich es wollte. Ich habe weder bezahlt noch habe ich mich angestellt aber ich bin mitten auf dem Karussell und kann nicht absteigen. Runde um Runde dreht es sich weiter. Umso mehr ich versuche die Angst und die Sorgen wegzudrängen, umso gemütlicher machen sie es sich auf meinen Schultern.

Er isst zu viel Schokolade – er muss sich gesünder ernähren. Er will seine Jacke nicht anziehen – er wird sich erkälten. Der Weg ist zu weit – das schafft sein Herz nicht. Er bewegt sich zu viel – er übernimmt sich. Er hustet – er darf keine Lungenentzündung bekommen. Er hat nicht gut geschlafen – das wird zu anstrengend für ihn. Es regnet – er wird sicherlich frieren. 

Evan lebt mit einem halben Herzen. Ein halbes Herz für ein ganzes Leben. Passt das? Hält sein halbes Herz ein ganzes Leben? Diese Fragen, versuche ich zu verdrängen. Ich möchte ihnen keinen Platz in meinem, unserem Leben, geben. Aber sie kommen immer mal wieder auf. Dann schaue ich mir Evan an und habe große Angst. Dann mache ich mir Sorgen und schon klopft es an der Tür. Immer und immer wieder. Es bleibt mir nichts anderes übrig, ich muss öffnen. Schon drängen sich die Angst und die Sorge an mir vorbei und gehen schnurstracks in die Küche, direkt auf den Sessel. Direkt mit einem Kaffee.

Ein Kind mit einer lebensverkürzenden chronischen Erkrankung zu haben, beeinträchtigt das eigene Leben in allen Bereichen. Heutzutage ist die Medizin zum Glück schon so weit, dass Evans Herzfehler sehr gut zu behandeln und die Lebenserwartung enorm gestiegen ist aber ein halbes Herz bleibt ein halbes Herz. Egal wie man es betrachtet. Ich versuche alles, wirklich alles, dass Evan sich gut entwickelt. Ich möchte ihm alles mit auf dem Weg geben was er körperlich benötigt, um sich gut zu entwickeln. Und glauben Sie mir, das ist nicht immer einfach mit Evan. Gesundes Essen ist schon eine enorme Herausforderung. Ganz zu schweigen von Zahnarzt- und Arztbesuchen. Es ist einfach furchtbar, immer mit diesen Sorgen und Ängsten zu leben. Egal ob es eine kleine Erkältung oder ein leichter Husten ist, sofort sorge ich mich um Evans Leben. Sofort male ich mir das Schlimmste aus und der Herzfehler kommt mir vor wie ein riesengroßer Fels. Die Bedrohung ist überall zu spüren. Aus der coolen Löwenmutter wird ein ängstliches Häschen.

Sich zu verkriechen, das habe ich lange Zeit gemacht. Ich habe den Ängsten und Sorgen durch meine Verdrängungstrategie immer größeren Raum gegeben. Umso mehr ich diese verdrängt habe, umso größer und schrecklicher wurden sie. Es wurde so schlimm, dass ich eine Zeit lang nicht mehr schlafen gehen wollte. Denn am Abend und in der Nacht wurden meine Dämonen am Größten. Dann sind sie über sich hinaus gewachsen und ich konnte ihnen nicht mehr entgegentreten. Ohne ein Hörbuch und einen Film (ohne Ton) konnte ich sehr lange nicht in den Schlaf finden. Sobald ich die Augen zugemacht habe, saß ich auf dem Karussel und konnte nicht mehr absteigen.

Ich wünsche mir von Herzen, dass Evan gesund ist und bleibt. Ich wünsche mir, dass sein halbes Herz ein Leben lang ausreicht. All diese Dinge wünsche ich Evan aber ich kann sie nicht beeinflussen. Es liegt nicht in meiner Hand. Ich kann nur auf Gott vertrauen und diese Wünsche immer und immer wieder in mein Gebet mit einschließen. Was ich allerdings beeinflussen kann, ist mein Handeln und mein Denken. Anstatt das Klopfen zu ignorieren, kann ich der Angst und der Sorge entgegentreten. Mittlerweile kann ich Ihnen die Tür aufmachen und sie begrüßen. „Hallo! Schön, dass ihr mal wieder vorbeikommt.“ Ich kann sie in die Küche bitten und Ihnen einen Kaffee anbieten. Umso ehrlicher ich ihnen entgegen trete, umso schneller sind sie wieder weg. Ich kann die Unterhaltung leiten und lenken und nicht andersherum. Natürlich gibt es auch noch die anderen Tage. Tage, an denen ich sie nicht freundlich begrüßen möchte und sie mir wieder so unendlich groß erscheinen und mich zu erdrücken versuchen. Aber ich lerne dazu. Ganz langsam. Ganz behutsam. Aber ich lerne. Ich versuche mich nicht mehr, von meinen Ängsten und Sorgen beherrschen zu lassen. Mittlerweile benötige ich nur noch ein Hörbuch. Manchmal geht es sogar ohne.

Evans Herzfehler gehört zu seinem und damit auch unserem Leben. Er ist ein Teil von ihm, von uns. Ich möchte, dass Evan ganz selbstsicher groß und erwachsen wird ohne von Ängsten und Sorgen geplagt zu sein. Ich möchte, dass er sich Dinge zutraut und keine Angst vor dem Leben und seinem Herzen hat. Ob ein halbes Herz für ein ganzes Leben reicht, diese Frage vermag ich nicht zu beantworten. Evan lebt jetzt, heute, was die Zukunft bringt, das wissen wir nicht. Das wissen wir weder für Evan noch für mich. Das können wir nicht beeinflussen. Aber das Heute, das Jetzt, das können wir beeinflussen. Wir erleben Abenteuer und wir umarmen das Leben. Wir tanzen im Regen und springen in Pfützen – auch mit der Gefahr einer Erkältung. Wir heißen das Leben mit all seinen Facetten willkommen! Jeden Tag aufs Neue.

 

 

Mit all Euren Farben.

Ich ertappe mich dabei wie ich Dich beobachte. Wie ich schaue was Du wie machst und wie Du was machst. Ich bin begeistert und sprachlos. Du verstehst schon so viel. Du bist mein zweites Kind aber diese Erfahrungen mache ich zum ersten Mal. Manchmal kann ich gar nicht begreifen, wie Du schon so viel verstehen kannst. Wie ist das möglich? Du entdeckst Deine Welt und ich darf daran teilhaben. Oft geht das im unserem Alltag unter. Zwischen dem Arbeiten und unseren vielen Terminen bleibt nicht viel Zeit. Aber in manchen Momenten, in diesen ganz besonderen Momenten, schaue ich genau hin und bin sprachlos. Mit Dir ist so vieles anders als mit Deinem besonderen großen Bruder. Es gab eine Zeit, in der war ich sehr traurig, da ich immer mehr Dinge entdeckte, die Du kannst aber Dein großer besonderer Bruder nicht. Irgendwie tat es neben der Freude, dass Du wieder etwas Neues entdeckt hast, auch jedes Mal weh. Eine kleine oder etwas größere Enttäuschung schlich sich immer wieder ein. Es gibt Dinge, die Du mit Deinen 15 Monaten schon kannst, die Dein großer Bruder auch heute noch nicht für sich entdeckt hat.

Warum macht mich das eigentlich traurig? Woher kommt diese Enttäuschung? Macht es mich traurig, weil es meine Erwartungen an Deinen großen besonderen Bruder sind? Liegt es an der heutigen Gesellschaft, in der es immer mehr darum geht, was ein Kind wann kann oder können sollte? Wann habe ich aufgehört auf meine eigenen Gefühle zu hören und den Erwartungen die Tür zu öffnen?  

Letztens, irgendwann, saß ich auf unserem Sofa und schaute Euch beiden beim Spielen zu. Und auf einmal hat sich noch ein Gefühl eingeschlichen: Freude. Freude über Euch, meine beiden wundervollen Kinder, so unterschiedlich ihr auch seid. Ganz nebenbei habe ich Deinen großen Bruder gesehen wie glücklich er mit seinen Tieren spielt. So ganz anders als Du.

Du magst Deinem großen Bruder bald einiges voraushaben. Ich hoffe, dass Du ihm Deine Welt zeigst und er von Dir lernen kann. Aber weißt Du was? Ich hoffe, dass Du auch viel von Deinem großen Bruder lernen wirst. Denn er hat einigen Menschen schon jetzt etwas Essenzielles voraus: die pure Freude am Leben. In jedem Gegenstand, in jeder Situation, findet er sein Glück. Egal ob er mit einer Bratpfanne oder Klobürste (unbenutzt) spielt. Er verstellt sich nicht, um anderen Menschen zu gefallen, sondern gibt sich so wie er ist. Mit all seinen Facetten. Mit all seinen Farben.

Ihr Beide strahlt in Euren eigenen, ganz besonderen Farben. Es bringt nichts diese zu vergleichen, denn man kann sie einfach nicht vergleichen. Das habe ich jetzt verstanden und dafür bin ich dankbar. Nicht besser. Nicht schlechter. Sondern einfach anders. Es muss nicht immer besser oder schlechter sein. Anders trifft es in unserem Falle sehr gut. Es sind meine Erwartungen an Euch, die mich traurig machen. Ihr glänzt in Euren ganz eigenen Farben. Jeder auf seine Weise und jeder wunderschön. Einzigartig.

Erwartungen machen meistens traurig, da sie größtenteils nicht erfüllt werden. Warum muss ein Kind mit dem Erreichen eines bestimmten Alters etwas Bestimmtes können müssen. Jedem Kind sollte doch erlaubt sein, sein eigenes Tempo zu haben und genau in diesem Tempo begleitet und unterstützt zu werden. Hat der Wert meines Kindes mit seinem Können und seinen Fähigkeiten zu tun? Ist mein Kind weniger wert, weil es etwas nicht kann? Ich glaube nicht. Seitdem ich mich von meinen und den gesellschaftlichen Erwartungen gelöst habe, geht es mir besser. Ich habe die Erwartungsbrille abgenommen und wißt ihr was passiert ist? Auf einmal sehe ich klarer und erkenne wie wundervoll meine beiden Kinder sind. Wir sehr sie glänzen und strahlen. Ganz unterschiedlich aber wunderschön.

Liebe Mütter, liebe Väter, lasst Euch nicht blenden von Euren oder den gesellschaftlichen Erwartungen was Euer Kind wann und wie können müsste. Jedes Kind ist einzigartig speziell und glänzt in seinem ganz eigenem Licht.

*Über sich hinauswachsen*

Urlaub. Normalerweise freut man sich auf diese besondere Zeit im Jahr. Kann es kaum erwarten, bis es wieder soweit ist und man in den Urlaub fahren kann. Bei mir lag die Urlaubsfreude vor ein paar Tagen gleich bei Null.  Ich habe mich nicht gefreut, für ein paar Tage wegzufahren. Warum? Ganz einfach, weil eine Person in diesem Kurzurlaub fehlte. Evan. Mein Evan war nicht dabei. Ich habe mich dafür entschieden, ihn nicht mitzunehmen, da ich wusste, dass dieser Kurzurlaub nichts für Evan wäre. Es kein Urlaub für mich wäre, wenn Evan dabei wäre. Diese Erkenntnis, Einsicht, schmerzt. Ein Kind bewusst zurückzulassen. Ein Kind bewusst zurücklassen zu müssen, um sich einmal zu erholen. Zu dieser Erkenntnis gesellt sich dann noch schnell und gerne das schlechte Gewissen (mein seid Jahren treuer, sehr treuer, Freund) und die Frage: „Ist es okay, seine eigenen Bedürfnisse über die meines Kindes zu stellen?“ Mein Verstand  und viele meiner lieben Mitmenschen sagen ganz klar: Ja! Aber mein Herz? Mein Herz sagt etwas anderes. Es mag für viele Leute albern oder übertrieben klingen, aber mir ist es extrem schwer gefallen, meinen Kurzurlaub zu genießen. Meine Gedanken waren oft, sehr oft, zu Hause, bei Evan. Ich habe mich hin und her gerissen gefühlt. Oft habe ich gedacht, dass könnte Evan jetzt machen, um mir im nächsten Moment direkt wieder vorzustellen, in welchem Chaos, in welcher Anstrengung, das für mich, für uns, enden würde. Egal wie sehr ich es drehe oder es mir wünsche, dieser Urlaub wäre nichts für Evan gewesen. Evan hatte seinen eigenen kleinen Kurzurlaub bei seinen Großeltern und es erging ihm sehr gut. Nichtsdestotrotz schmerzt es mich, Evan nicht mitnehmen zu können. Einen Urlaub zu dritt zu machen, obwohl wir zu viert sind. Das fühlt sich einfach nicht richtig an. Dieses Gefühl blieb bis zum Ende meines Kurzurlaubes bestehen. Aber ich habe durchgehalten. Warum? Für mich. Ich habe eingesehen, dass es wichtig ist, Kraft zu tanken, um wieder gestärkt in den Alltag gehen zu können. Für mich war es wichtig, bei meiner Entscheidung zu bleiben und diese bis zum Ende durch zuziehen und die Gefühle auszuhalten. Für mich. Für Evan. Und ich habe es geschafft. Ich bin wieder ein Stückchen höher auf meinem kleinen Lebensturm der Gefühle gekommen. 

Ob ich nochmal in den Kurzurlaub fahren werde? Ehrlich gesagt weiß ich es nicht. Ich glaube im Moment reicht erstmal ein Tagesurlaub. 

Immer noch kein Kreis.

Ein Dreieck passt nicht in einen Kreis: Ein Thema, welches mich schon seit langem beschäftigt. Nicht das Dreieck, nicht der Kreis. Sondern muss das Dreieck in den Kreis passen? Ich fühle mich oft nicht der Gesellschaft zugehörig. Wir sind das Dreieck und die Gesellschaft ist der Kreis. Besser gesagt, Evan ist das Dreieck. Ich bin etwas dazwischen. Ich bin formbar, mal bin ich mehr Kreis mal bin ich mehr Dreieck – aber immer so dehnbar, immer so flexibel beides sein zu können. Evan? Evan ist ein Dreieck. In manchen Momenten schafft er es kurz ein Kreis zu sein, um gleich im nächsten Moment in seine alte Form zu wechseln: dem Dreieck.

Was ich damit sagen möchte? Muss oder sollte ein behindertes Kind sich anpassen, um gesellschaftsfähig zu sein? Und wenn ja, in wie weit? Vor ein paar Jahren hätte ich diese Frage mit einem klaren Nein beantwortet. Ich habe großen Wert darauf gelegt, dass Evan so sein kann wie er ist. Dass er sich genauso entfalten kann wie sein Wesen es ihm vorgegeben hat. Heute würde ich diese Frage nicht mehr so klar und eindeutig beantworten können. Eine Tatsache möchte ich an dieser Stelle aber ganz klar betonen:

Evan ist ein toller Junge genauso wie Gott ihn geschaffen hat. Ich liebe Evan so wie er ist. Für mich ist er perfekt unperfekt.

Nichtsdestotrotz merke ich immer mehr, umso älter Evan wird, wie schwierig es für uns wird. Ich kann seine “Anfälle“ nicht mehr so gut überspielen wie früher. Ich kann sein Verhalten nicht mehr kompensieren. Hinzu kommt, dass Evans Behinderung nicht sofort erkbennbar ist, er trägt kein klares Aushängeschild für seine Besonderheit. Wir werden mittlerweile immer schneller und auch härter verurteilt. Das kann mir doch egal sein? Ja, vielleicht aber so einfach ist es leider nicht. Wenn man ständig unangenehm auffällt, ständig bösen Blicken und auch Kommentaren ausgesetzt ist, macht dieser Zustand etwas mit einem. Ich bin eine starke Löwenmama und habe ein dickes Fell aber auch das dickste Fell wird irgendwann spröde. Verlieht an Glanz. Meine Seele wird immer labiler, immer angreifbarer.

Zu dem Aspekt der Labilität gesellt sich aber auch noch ein anderer, die Einsamkeit. Die Ausgrenzung. Die Isolierung. Für mich, für mein gesundes Kind und auch für mein besonderes Kind. Ein kurzer Besuch in einer Eisdiele kann schon zu einer nicht endenden Anstrengung werden. Jetzt könnte man argumentieren, dass wir ja nicht in eine Eisdiele fahren müssen. Das mag vielleicht stimmen – obwohl ich auch ein Anrechtsgefühl auf Freizeit empfinde. Aber es gibt Dinge, die kann man nicht umgehen. Wir müssen einkaufen, zur Post, zum Arzt, zum Amt oder zur Apotheke. Ich könnte noch etliche Dinge aufzählen aber ich glaube Sie haben verstanden worum es mir geht. 

Oftmals macht es uns das Umfeld, die Gesellschaft schwer. Aber nicht immer. Oft sind die Begebenheiten gut, die Menschen verständnisvoll und trotzdem funktioniert es nicht, da Evan sich nicht den Umständen entsprechend verhalten will oder auch kann. Es gibt auch bei Inklusion Grenzen, an die Evan sich halten muss. Aber was macht man mit einem Kind, für den es sogar schwer ist, sich an diese Grenzen und Umstände zu halten? Evan bekommt viele Therapien, immer mit dem Blick in die “nicht-übertherapiert-werden-Richtung“. Schon lange habe ich über Medikamente nachgedacht. Immer mal wieder habe ich die Gedanken zugelassen. Am Anfang kurz und dann immer etwas länger bis ich zu dem Entschluss gekommen bin, es auszuprobieren. Ganz langsam, ganz behutsam und natürlich in genauer und überwachter Absprache mit Ärzten und Therapeuten. Mein Ziel ist dabei nicht, Evans Wesen zu verändern oder ihn ruhig zu stellen. Ich wünsche mir, dass seine Anfälle weniger werden. Die Spitzen etwas gekappt werden. Man kann es sich wie in einem Storm auf dem Meer vorstellen: Ich wünsche mir, dass seine Wellenspitzen etwas abflachen. Er etwas kompromissbereiter wird. Dabei geht es mir nicht darum, gut mit Evan in einer Eisdiele sitzen zu können. Nein, es geht darum den Tag zu überleben und den Alltag zu stemmen. Es uns beide etwas einfacher zu machen.

Evan ist ein geselliger kleiner Junge und möchte oft dabei sein. Er möchte Abenteuer erleben und an Aktivitäten teilhaben. Es schmerzt mich, zu sehen, wie er oft an einfachen Dingen scheitert und dann traurig und wütend wird. Wenn die Medikamente es ihn ermöglichen, ihn dabei unterstützen, an diesen Aktivitäten teilzuhaben, dann möchte ich es wenigstens versuchen. Für Evan. Für meinen kleinen Michel.

Ich hagere immer noch sehr mit dem Gedanken der Anpassung. Wie viel ist gut? Wie viel ist möglich? Ich bin kein Fan, kein Unterstützer (ja, sogar Gegner) von Umerziehung. Evan soll sich so entfalten können wie er möchte. Es liegt mir fern sein Wesen, seinen Charakter zu ändern, nur damit es uns ermöglicht, an gesellschaftlichen Begebenheiten teilzunehmen. Es ist mir egal, wenn wir aufallen, weil Evan wieder unsere Staubsauger zum Sparziergang mitgenommen hat oder er auf unserer Reserveklobürste, unbenutzt versteht sich, glücklich und unbeschwert die Vogelhochzeit trällert. Allerdings kann und möchte ich uns nicht isolieren.  Das Nötigste, das Wesentlichste, muss einfach funktionieren. Ich versuche schon so gut es eben geht, zu planen und zu organisieren. Immer mit den Gedanken bei Evan. Wie viel kann er ertragen. Allerdings gibt es oft Momente, die nicht planbar sind. Ich habe das Beitragsbild bewußt ausgewählt, weil es für mich, unser Leben, Evans Leben, sehr gut wiederspiegelt.

Wie viele Stufen muss, sollte, Evan von seinem eigenen kleinen Waldtürmchen der Welt entgegenkommen? Was geht und was geht nicht? Was ist zu viel und was ist möglich. Was ist vertretbar? 

Manchmal keimt der Rebell in mir auf und das Bild „Evan und ich gegen den Rest der Welt“ entfacht in meinen Gedanken. Dann wird die Anpassung klein und ich kämpfe barfuß und mit Staubsaugern und Klobürsten im Gepäck gegen die Welt und gegen die Anpassungen. Und dann gibt es die anderen Tage. Die Tage, an denen ich mir einfach etwas mehr Normalität und Anpassung wünsche. 

Mich macht es wütend und traurig, wenn Mitmenschen zu einfach, zu schnell, über die Thematik der Anpassung urteilen, ohne sich einen tiefgreifenden Einblick in die gesamte Situation zu machen. Es gibt mehr als nur schwarz oder nur weiß. Oftmals liegt die Wahrheit oder die Lösung irgendwo dazwischen. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir Eltern alle das Beste für unsere Kinder möchten und mir liegt es fern über andere Familien zu urteilen. Ich gebe mein Bestes und wenn ich mehr geben könnte, würde ich es tun.

Mein lieber Evan, wenn Du dies irgendwann lesen solltest, möchte ich, dass Du weißt, dass Deine Mama Dich so liebt wie Du bist. Du bist ein wundervoller, einzigartiger Mensch. Du bereichst mein Leben und ich werde Dich immer unterstützen und Dir zur Seite stehen. Auch mit spröden Löwenhaaren. In Liebe, Deine Mama