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@ Margot Dennler

Anders und (un)sichtbar.

Diese Woche freue ich mich sehr, Euch Margot und ihre Familie vorzustellen. Margot ist 49 Jahre alt und kommt ursprünglich aus Österreich. Mittlerweile lebt sie mit ihrem Sohn und ihrem Mann in der schönen Schweiz. Ihr Sohn hat die mittlere Hilflosenentschädigung, dieses ist wie Pflegegeld zu verstehen. Ihre Kraftquellen sind der christliche Glaube, ihre Familie, Freunde und Hobbies.

Magst Du Dich und Deine Familie kurz vorstellen? Was ist bei Dir /Euch anders und unsichtbar?
Ich stottere aber habe selber keinen Ausweis oder eine Pflegestufe. Mein Mann Samuel ist 52 Jahre und hatte mit 3 Wochen eine Hirnhautentzündung. Die Folgen dieser Entzündung sind hinken, schielen, und eine Verminderung der Belastbarkeit. Mein Mann bezieht daher eine 3/4 Rente. Unser Sohn Jonathan ist 14 Jahre alt und hat eine Muskeldystrophie des Typs Duchenne (muskuläre Erbkrankheit), Kleinwuchs und eine Lernschwäche.

@Margot Dennler

Wo und wie wird Deine/Eure unsichtbare Behinderung im Alltag sichtbar? Wie beeinflusst Dich/Euch die Behinderung im Alltag?
Sobald ich sprechen muss, fange ich an zu stottern. Zum Glück nicht immer in jeder Situation. Mein Mann kann nicht so schnell arbeiten und ist auch nicht stark belastbar. Bei Jonathan lässt die körperliche Kraft immer mehr nach. Mittlerweile kann er nur noch mit einem Rollator einige Meter laufen. Seine Arme sind noch gut beweglich. In der Schule ist er im Fach Mathematik noch nicht so weit wie die anderen Kinder.

Was war die blödeste Reaktion in Bezug auf Deine Behinderung, mit der Du je konfrontiert warst?
Ich wurde oft ausgelacht oder für dumm gehalten. Bei meinem Sohn wurde mir früher immer wieder gesagt, dass er sich noch normal entwickeln würde. Sätze wie: “ Das kommt schon noch“ oder „Das ist ja nicht so schlimm“, habe ich öfter zu hören bekommen. Von meinem Mann wurde bei der Arbeit immer sehr viel Leistung und Tempo erwartet, die er aufgrund seiner Einschränkung nicht vollbringen konnte.

Was war Dein positivstes Erlebnis in Bezug auf Deine Behinderung im Alltag?
Interessiertes nachfragen, Bewunderung und Lob.

Welche Reaktionen und Verhaltensweisen Deiner Mitmenschen würdest Du Dir wünschen?
Offene Fragen, normales Verhalten und in einigen Situationen einfach Hilfe anbieten

Hast Du einen Tipp, wie man mit doofen Situationen und unfreundlichen Menschen umgehen kann?
Entweder das Gespräch suchen, ignorieren oder eine „kernige“ Antwort geben.

Würdest Du Dir wünschen, dass Deine Behinderung (Eure Behinderung) sichtbarer wäre?

@ Margot Dennler

Wenn ja/nein, warum?
Ja manchmal wünsche ich es mir, da es für manche Ämter, Behörden und Mitmenschen einfacher wäre, die Einschränkungen einzuordnen.

Hattest Du schon einmal (unbegründete) Vorurteile einem anderen Menschen gegenüber? Wenn ja, warum?
Ja, weil ich den Menschen in manchen Situationen nur nach seinem Äußeren beurteilt habe.

Wie sieht für Dich eine ehrliche Begegnung aus?
Gegenseitiges Interesse und ein Geben und Nehmen.

Vielen lieben Dank liebe Margot für das offene Interview!


Anders und (un)sichtbar.

@ Cynthia Focken-Bahmann

Morgen ist ein neuer Tag –  ist das Lebensmotto von Cynthia und ihrer Familie. Cynthia ist 41 Jahre alt und lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Bremen. Ihre Tochter Lily ist fast 4 Jahre alt und hat das Smith-Magenis-Syndrom (SMS). Der Gendefekt entsteht fast immer zufällig, ohne dass ein oder beide Elternteile Anlagenträger sind. Im Gegensatz zu anderen Betroffenen sieht man Lily ihre Behinderung nicht an. Lily hat einen Pflegegrad 4 und einen GdB (Grad der Behinderung) von 80 %. Ihre Kraft lädt Cynthia sich im Alltag immer wieder durch kleine Auszeiten auf.

Magst Du Dich und Deine Familie kurz vorstellen? Was ist bei Dir /Euch anders und unsichtbar?
Wir haben e
in schwer behindertes Kind, welchem man die Behinderung nicht ansieht. Lily hat das Smith-Magenis-Syndrom, eine Deletion (Verlust eines mittleren Chromosomenstückes) am kurzen Arm von Chromosom 17. Ihre Symptome sind veränderter Tag-/Nachtrhythmus, herausforderndes Verhalten, selbstverletzendes Verhalten, entwicklungsverzögert, schwer kontrollierbare Wutausbrüche, Übergriffigkeiten, Lernschwierigkeiten und eine geistige Behinderung. SMS umfasst auch noch mehr oder minder schwere körperliche Behinderungen, von denen wir jedoch Gott sei Dank verschont geblieben sind. Wir stoßen oft auf Unverständnis und sehen uns unangebrachten Belehrungen ausgesetzt. Man bekommt auch schnell einen „Stempel „ aufgedrückt und lebt heute doch etwas isolierter als früher.


Wo und wie wird Deine/Eure unsichtbare Behinderung im Alltag sichtbar? Wie beeinflusst Dich/Euch die Behinderung im Alltag?
Unsere Tochter zeigt stark herausforderndes Verhalten und hat fast unkontrollierbare Wutanfälle mit verletzendem und selbstverletzendem Verhalten. Zu Hause ist dieses Verhalten gut zu händeln, in der Öffentlichkeit leider weniger. Sie konnte erst mit 19 Monaten feste Nahrung zu sich nehmen und hatte starke Probleme mit der Mundmotorik. Zudem ist sie erst mit zwei Jahren gelaufen. Ergo-, Logo- und Physiotherapie sowie Frühförderung gehören zu unserem wöchentlichen Programm. Außerdem kämpfen wir vermehrt mit starker Bronchitis und Mittelohrentzündung. Das sind auch Symptome der meisten SMS Menschen. Erschwerend bei Lily kommt hinzu, dass sie eigentlich nie Fieber hat. Wir mussten lernen, sie zu lesen und zu erahnen, wann sich z.B. die nächste Mittelohrentzündung ankündigt. Denn sie spürt auch keinen Schmerz am Kopf und nur vermindert in den Händen und Füßen.

Was war die blödeste Reaktion in Bezug auf Deine Behinderung, mit der Du je konfrontiert warst?
Behindert? Quatsch, man sieht ja gar nichts!

@ Cynthia Focken-Bahmann


Was war Dein positivstes Erlebnis in Bezug auf Deine Behinderung im Alltag?
Wir haben ein gutes Netzwerk aus Therapeuten und ganz tolle Erzieher im Kindergarten, die sie genauso nehmen wie sie ist und super integriert haben.


Welche Reaktionen und Verhaltensweisen Deiner Mitmenschen würdest Du Dir wünschen?

Fragen statt glotzen oder zu verurteilen!


Hast Du einen Tipp, wie man mit doofen Situationen und unfreundlichen Menschen umgehen kann?

Humor hilft mir oft.


Würdest Du Dir wünschen, dass Deine Behinderung (Eure Behinderung) sichtbarer wäre? Wenn ja/nein, warum?

Nein. Ich glaube, dann wäre die Ausgrenzung noch größer.


Hattest Du schon einmal (unbegründete) Vorurteile einem anderen Menschen gegenüber? Wenn ja, warum?

Natürlich. Allerdings weniger wegen sichtbarer Behinderungen als wegen wirklich dummer Äußerungen.


Wie sieht für Dich eine ehrliche Begegnung aus?

Auf Augenhöhe.


Vielen lieben Dank liebe Cynthia für das ehrliche Interview!

Anders und doch (un)sichtbar.

Ist es Glück, wenn man einem Menschen seine Behinderung nicht ansieht? Sind Behinderungen, die auf den ersten Blick nicht direkt zu sehen sind, gleich weniger schlimm?

Fragen und Gedanken, die mich einfach nicht loslassen.
Oft wird eine Behinderung mit der Größe der offensichtlichen Sichtbarkeit bemessen. Es gibt Menschen, die haben ein oder mehrere körperliche Erkennungszeichen oder Merkmale. Ihnen sieht man ihre Einschränkung(en) und/oder Behinderung an. Es gab Tage in meinem Leben, da habe ich mir ein solches Merkmal und Erkennungszeichen für Evan gewünscht. So wie eine Art “Aushängeschild” oder eine “förmliche Entschuldigung”. Nicht immer gleich verurteilt zu werden. Nicht immer in den Augen “Sie hat aber ein freches Kind” lesen zu müssen. Mittlerweile gehe ich offen mit der Behinderung meines Sohnes um. Ich bin sehr direkt und spreche Dinge offen an und aus. Aber es gibt immer noch die anderen Tage. Tage, an denen es mir schwer fällt. Tage, an denen mein Mutterherz, aufgrund der Blicke und den Reaktionen, schmerzt.

Mich hat die Resonanz meines Artikels “Das muss einfach (noch)mal gesagt werden“, in dem ich über die negativen Reaktionen im Alltag berichtet habe, sehr gefreut aber gleichzeitig auch sehr nachdenklich gemacht. Ich habe sehr viele Kommentare und Nachrichten erhalten, in denen mir Mütter und Väter, Omas und Opas, Freunde, Bekannte, Tanten und Onkels berichtet haben, dass es ihnen ähnlich ergeht. Einige von ihnen haben eine nicht direkt sichtbare Behinderung und andere haben Familienangehörige, die betroffen sind. Die Hintergründe, Umstände, Behinderungen sind alle sehr unterschiedlich aber sie haben eines Gemeinsam: sie sind unsichtbar. Auf dem ersten Blick nicht direkt sichtbar.

Eine nicht sichtbare Behinderung bedeutet nicht automatisch “nichtbehindert” zu sein. Oft werden die unsichtbaren Behinderungen nicht ernst genommen, da ihre gesundheitlichen Einschränkungen nicht offensichtlich sind. Demenz, Autismus, psychische Erkrankungen, Gehörlosigkeit, ADHS, Herzfehler, Organschäden, chronische Erkrankungen, Migräne, Lernbehinderungen, Diabetes und Multiple Sklerose sind nur einige wenige Beispiele.

Das Unsichtbare sichtbar machen. Ich habe meinen Blog vor ungefähr 3 Jahren ins Leben gerufen, um mich bewusst für mehr Akzeptanz und Offenheit einzusetzen. Ich bin mir im Klaren, dass ich durch diese Webseite keine Wunder vollbringen kann, aber nichtsdestotrotz möchte ich meinen Anteil dazu beitragen, das Unsichtbare sichtbarer zu machen. Intoleranz entsteht oft durch Unwissenheit. Häufig ist es die Unwissenheit und die Angst, die in unserem Alltag das eigentliche Problem darstellen. Vorurteile begleiten unseren Alltag. Evan und ich haben schon sehr viele negative Erfahrungen machen müssen, die durch Unwissenheit entstanden sind. Allerdings gibt es auch einige positive Beispiele. Aus manch anfänglich “schwierigen” Situationen, sind sehr ehrliche und offenen Gespräche entstanden. Ich habe den Eindruck erhalten, dass sich die Auffassung und die Sicht der Menschen im Laufe des Gespräches positiv verändert haben. Erweiterung des Wissens bedeutet gleichzeitig Abbau von Unwissen und Ängsten.

Meine Fragen und Gedanken sind zu einer Idee geworden:

Anders und (un)sichtbar.

Ich möchte diese Rubrik, die ich vor 2 Jahren schon einmal auf meinem Blog veröffentlicht habe, wieder ins Leben rufen: anders und (un)sichtbar. Ich habe mir einen Fragebogen überlegt und würde diesen gerne betroffenen Menschen zusenden. Egal ob Angehörige, Freunde, Therapeuten, oder einfach nur interessierten Menschen.

Ich brauche Eure Hilfe & Unterstützung. Habt Ihr Lust über Eure unsichtbare Behinderung oder Eure Betroffenheit zu sprechen? Gerne könnt Ihr mir auch Eure eigene Geschichte – ohne Fragebogen – zusenden. Falls Ihr Interesse und/oder Fragen habt, sendet mir einfach eine E-Mail (m.wessel12@yahoo.de). Egal ob mit Bild oder anonym, ich freue mich sehr über Eure Zuschriften und Euer Interesse.

„Ich glaube daran, dass das größte Geschenk, das ich von jemandem empfangen kann, ist, gesehen, gehört, verstanden und berührt zu werden. Das größte Geschenk, das ich geben kann, ist, den anderen zu sehen, zu hören, zu verstehen und zu berühren. Wenn dies geschieht, entsteht Kontakt.“ (Zitat: Virginia Satir, das größte Geschenk)

„Jetzt ist er aber doch wieder gesund.“

„Jetzt ist er aber doch wieder gesund”. – Nein, leider nicht. Evan ist nicht gesund. Er lebt nur mit einem halben Herzen. Operiert heißt nicht geheilt. Das wird mir an manchen Tagen immer wieder etwas mehr bewusst. An Tagen wie vorgestern. An Tagen, an denen unsere regelmäßigen Termine beim Kinderkardiologen anstehen. Der Herzfehler rückt durch Evans geistige Behinderung oft in den Hintergrund. Manchmal vergesse ich ihn sogar kurz im Alltag. Aber es gibt auch die anderen Tagen. Tagen, an denen der Herzfehler mich regelrecht einnimmt. Manchmal reichen schon ein kleiner Husten oder ein leichter Schnupfen aus. Dann sind sie wieder da. Die Angst und die Sorgen. Von jetzt auf gleich wird mir wieder bewusst, dass Evan nur mit einem halben Herzen lebt. Auf einmal fallen mir seine blauen Lippen und seine blauen Fingernägel auf. Er sieht blass aus. Ist er vielleicht krank? Geht es ihm gut? Was macht sein Herz? Das Gedankenkarusell fängt an sich zu drehen und ich setze mich in Bewegung. Schnurstracks geht es in Richtung unseres sehr gut bestügten Medikamentenschrankes. Danach wird der Wasserkocher angemacht und ich stelle das dampfende Wasser mit ein paar Tropfen Babix in sein Kinderzimmer. Ganz automatisch verlaufen diese Abläufe. 

Ein Kind mit einer lebensverkürzenden chronischen Erkrankung zu haben, beeinträchtigt das eigene Leben in allen Bereichen. Heutzutage ist die Medizin zum Glück schon so weit, dass Evans Herzfehler sehr gut zu behandeln und die Lebenserwartung enorm gestiegen ist. Aber ein halbes Herz bleibt ein halbes Herz. Der Herzfehler wird nicht eines morgens auf einmal weg sein. Evan ist und wird nicht gesund. An manchen Tagen ist es einfacher mit diesen Gedanken zu leben, an anderen Tagen etwas schwieriger. Es ist einfach furchtbar, immer mit gewissen Sorgen und Ängsten leben zu müssen. Egal ob es eine kleine Erkältung oder ein leichter Husten ist, sofort sorge ich mich um Evans Leben. Sofort male ich mir das Schlimmste aus und der Herzfehler kommt mir wie ein riesengroßer Fels vor. Die Bedrohung ist überall zu spüren. Aus der coolen Löwenmutter wird ein ängstliches Häschen.

Ich wünsche mir von Herzen, dass Evan gesund ist und bleibt. Ich wünsche mir, dass sein halbes Herz ein Leben lang ausreicht. All diese Dinge wünsche ich Evan aber ich kann sie nicht beeinflussen. Es liegt nicht in meiner Hand. Ich kann nur auf Gott vertrauen und diese Wünsche immer und immer wieder in mein Gebet mit einschließen. Was ich allerdings beeinflussen kann, ist mein Handeln und mein Denken. Ich versuche mich nicht so sehr, von meinen Ängsten und Sorgen beherrschen zu lassen. Evans Herzfehler gehört zu seinem und damit auch unserem Leben. Er ist ein Teil von ihm, von uns. Ich möchte, dass Evan ganz selbstsicher groß und erwachsen wird ohne von Ängsten und Sorgen geplagt zu sein. Ich möchte, dass er sich Dinge zutraut und keine Angst vor dem Leben und seinem Herzen hat. Ob ein halbes Herz für ein ganzes Leben reicht, diese Frage vermag ich nicht zu beantworten. Evan lebt jetzt, heute, was die Zukunft bringt, das wissen wir nicht. Das wissen wir weder für Evan noch für mich. Das können wir nicht beeinflussen. Aber das Heute, das Jetzt, das können wir beeinflussen. Wir erleben Abenteuer und wir umarmen das Leben. Wir tanzen im Regen und springen in Pfützen – auch mit der Gefahr einer Erkältung. Wir heißen das Leben mit all seinen Facetten willkommen! Jeden Tag aufs Neue.

Wenn mich heute jemand fragen würde, ob ich Evan zu genau den gleichen Bedingungen und auch mit dem Wissen welchen Weg wir gehen müssen und welche Reise Evan antreten müsste, bekommen würde, ich würde sofort JA rufen! Ich habe meine Entscheidung nie bereut und würde auch heute keinen anderen Weg gehen, als den vor knapp 8 Jahren. Evan beeinflusst meine ganze Lebenseinstellung und zeigt mir, was wichtig ist und was nicht. Durch Evan habe ich gelernt im Regen zu tanzen und nicht ständig auf die Sonne zu warten. Dafür danke ich Dir, mein wundervollen Evan, vom Herzen. Deine Mama.

Liebe Mitmenschen, geht achtsam mit Euch um und wertschätzt Euch. Das Leben ist wundervoll und so kostobar, egal wie schwierig es manchmal auch sein mag.

 

Wenn Freundschaften zerbrechen.

Ich war ehrlich gesagt sehr überrascht, positiv überrascht, wie viel Resonanz und verschiedene Sichtweisen ich zu dem Thema „Soziales Leben mit einem behinderten Kind“ erhalten haben. Ein intaktes soziales Leben mit einem behinderten Kind zu führen, ist oft harte Arbeit. Manchmal sogar unmöglich. Es scheint nicht nur mir so zu gehen, sondern vielen anderen Familien ebenfalls. Diese Tatsache hat mich sehr berührt und zum Weiterdenken angeregt.

Ein Thema war dabei sehr dominant:  Der Abschied von Freunden und in manchen Fällen sogar von der eigenen Familie. Wie geht man damit um, wenn Freundschaften oder Familienkonstellationen aufgrund einer Behinderung zerbrechen?

Freundschaften kommen. Freundschaften gehen. Das ist ein ganz normaler Prozess. Darüber hinaus gibt es Freundschaften, die ein ganzes Leben halten. Aber es gibt auch Freundschaften, die aufgrund einer schweren Belastung wie einer Behinderung zerbrechen. Das habe ich des Öfteren schon am eigenen Leibe erfahren müssen. Ich habe gemerkt, wie Evan und ich gemieden wurden und der Kontakt immer weniger wurde. Es gibt Freundschaften, da ist es ein schleichender Prozess. Irgendwie wird der Kontakt immer weniger und es werden Ausflüchte genutzt, um sich nicht mit uns treffen zu müssen. Nach einiger Zeit bricht der Kontakt dann komplett ab und mir wird erst später bewusst was eigentlich passiert ist. Es gibt aber auch Freundschaften, die zerbrechen von heute auf morgen. Das war für mich immer besonders schlimm. Erst im Nachhinein kann ich sagen, warum diese oder andere Freundschaften zerbrochen sind.

Evan wird größer und damit seine Behinderung sichtbarer sowie im Alltag spürbarer. Situationen, die ich früher „weglächeln“ konnte, kann ich heute nicht mehr so einfach zur Seite schieben. Evans Behinderung nimmt einen immer größeren Platz in unserem Leben ein und damit auch unsere Einschränkungen und oder auch Besonderheiten, die diese Behinderung mit sich bringen. „Mal eben so“ oder „einfach mal kurz“ ist bei uns nicht möglich. Die Rahmenbedingungen müssen passen und diese bedeuten oft eine große Einschränkung wie die seltsamsten Uhrzeiten, Wutausbrüche und lauthalses Geschreie, die entlegensten Spielplätze, einzigartige Wegbegleiter wie Bratpfannen oder Staubsauger: diese sind die Gängigsten, der vielen noch nicht genannten Einschränkungen. Zudem bemerke ich immer mehr, wie anstrengend und kräftezerrend unser Leben sein kann. Ich bin schneller kaputt und habe am Abend oftmals nicht mehr die Kraft, aus dem Haus zu gehen und mich mit Freunden zu treffen. Es kommt immer häufiger vor, dass ich Verabredungen absagen muss, da ich es einfach nicht mehr schaffe. Alleine diese Tatsache kann manche Freundschaften beenden, da das Verständnis fehlt. Der Moment der Realisierung, dass mal wieder eine Freundschaft kaputtgegangen ist, hat mich jedes Mal aufs Neue sehr verletzt und mitgenommen. Für mich und für Evan. Zu der Enttäuschung gesinnte sich auch die Wut und der Ärger. Und dann? Dann kamen die Traurigkeit und die Frage nach dem Warum. Warum wir? Warum ich? Warum Evan? 

Ich glaube erst mit Abstand, diese Frage ehrlich beantworten zu können. Am Anfang standen mir die Gefühle im Wege aber nach einiger Zeit, manchmal auch Jahren, kann ich gewisse Situation anders betrachten. Es ist immer schmerzlich, wenn Freundschaften zerbrechen. Egal aus welchem Grund auch immer. Den Grund zu wissen, aber nichts an den Begebenheiten ändern zu können, war und ist für mich immer noch schwierig. Mit der Zeit hat sich meine Sichtweise allerdings verändert. Heute ist es für mich okay, wenn Freundschaften aufgrund von Evans Behinderung auseinandergehen. Es ist okay, wenn Menschen an Ihre eigenen Grenzen stoßen und uns zu verstehen geben, dass sie das so nicht mehr möchten. Jeder Mensch hat in seinem Leben sein eigenes Päckchen zu tragen und manchmal kann man das Paket eines anderen Menschen so nicht mehr mittragen bzw. ertragen. Ich versuche nicht mehr zu erwarten, dass jeder unser Paket aushalten kann und möchte.

Heutzutage suche ich mir meine Freundschaften und Bekanntschaften sorgfältiger aus. Ich könnte Evan natürlich zu Hause lassen und mich mit gewissen Freunden, einfach immer alleine treffen. Das habe ich früher so gemacht. Heute ist mir meine Zeit dafür zu schade und zu kostbar. Ich habe wirklich tolle Freunde, die so einiges mit mir und Evan aushalten. Die Evan als eine Bereicherung empfinden und sich gerne mit uns treffen. Dafür bin ich unendlich dankbar. Ich frage heutzutage offener, ob es okay ist, gewisse Einschränkungen auszuhalten. Wenn es mal nicht geht, ist das in Ordnung. Ich bin dankbar für einen offenen Austausch. Ich kann nicht erwarten, dass meine Freunde immer bereit sind, alle Einschränkungen mitzutragen. Das ist okay für mich. Dafür müssen sie im Gegenzug ertragen, dass ich mich nur unter gewissen Bedingungen treffen kann. Es ist ein Geben und ein Nehmen. Ein offener Austausch was gerade geht und was nicht geht.

Es gibt Menschen, die begleiten uns ein Stückchen mit auf unserem Lebensweg, um ihn dann auch wieder zu verlassen. Früher hat mir das immer sehr zu schaffen gemacht und ich habe an uns gezweifelt und mich in Frage gestellt. Kann oder muss ich etwas anders machen? Soll ich lachen obwohl mir zum Weinen zumute ist? Soll ich die Frage „Wie geht es Dir?“ ehrlich beantworten oder lieber vortäuschen, dass es mir gut geht. Es gibt Freunde oder Bekannte, die wollen keine ehrliche Antwort auf diese Frage hören. Vielleicht interessiert es sie nicht oder sie können mit der Antwort nicht umgehen. Durch unsere Lebensumstände bin ich oft kaputt, launisch, zickig, traurig, wütend oder müde. Ich möchte diese Gefühle nicht immer verstecken müssen und etwas vortäuschen was ich gerade nicht bin. Es gibt Menschen, die können und wollen das nicht mittragen und das ist okay. Ich kann und möchte auf der anderen Seite aber auch nicht, immer in Sorge leben müssen, mich anders zu geben wie ich es eigentlich bin oder gerade empfinde. 

Es wäre gelogen, wenn ich mir nicht innerlich wünschen würde, dass alle Mitmenschen und Freunde, Verständnis für uns und Evans Behinderung haben. Uns ständig mit offen Armen und Herzens empfangen. Es ist immer schmerzlich, wenn man Ablehnung im Alltag erfährt. Umso schmerzlicher ist es für mich, da es sich um meinen Sohn handelt. Ich glaube, dass verletzt jede Mutter oder Vater sehr. Ich kann die Gefühle wie Wut, Ärger, Enttäuschung, Trauer nicht gänzlich abschalten aber ich habe im Laufe der Zeit realisiert, dass es uns nicht weiterhilft. Ich möchte mich nicht mehr ärgern und wütend sein, weil sich Menschen von uns abgewendet haben. Dafür ist mir unser Leben zu kostbar geworden. Ich erfreue mich über die wundervollen Menschen, Bekannte und Freunde, die wir in unserem Leben haben und ich kann voller Freude sagen, dass der liebe Gott uns mit vielen bezaubernden und einzigartigen Menschen reicht beschenkt hat. Anstatt zu betrauern was wir verloren haben, versuche ich mich darauf zu konzentrieren, was wir in unserem Leben haben. Ärger und Wut haben mich im Laufe der Zeit selber nur launisch und traurig machen lassen. In vielen Situationen hat es mir geholfen, zu verzeihen und loszulassen.

Mich haben Eure Kommentare, Geschichten, Ansichten und Erfahrungen sehr nachdenklich und auch traurig gestimmt. Leider erfährt man heutzutage mit einer Behinderung noch so viel Ausgrenzung und Ablehnung im Leben. Ich habe keine allwissende Weisheit, noch möchte ich Euch mit guten Ratschlägen bewerfen. Jeder ist anders und empfindet ganz unterschiedlich. Ich persönlich habe gemerkt, dass es sich lohnt, sich auf das Gute im Leben zu konzentrieren und sich nicht von negativen Umständen regieren zu lassen. Das Leben ist schön und kostbar, egal wie schwer viele Situationen auch sein mögen. Ich versuche mir im Alltag viele kleine Inseln einzubauen und tanke so wieder Kraft. Zudem habe ich mittlerweile sehr viele Freunde gefunden, die auch ein behindertes Kind haben. Mir persönlich tut der Austausch sehr gut. Evan, sein kleiner Bruder ich und lieben das Leben mit all seinen Facetten.   

Ich wünsche Euch allen, wunderbare Menschen an Eurer Seite und viele kleine oder größere Inseln des Alltages.

 

 

Vielleicht in einem anderen Leben.

Habt ihr Lust mit ins Eiskaffee zu kommen? Ja, sehr gerne. Das wünsche ich mir. Nein, leider können wir nicht. Das sage ich. Vielleicht in einem anderen Leben. Das denke ich.

Wenn uns Freunde/Bekannte mit gesunden Kindern fragen, ob wir sie begleiten möchten, ins Kino, zu Veranstaltungen, zum Fasching, zum Campingausflug, ins Kaffee oder einfach mal zu Ikea, dann ist meine Antwort meistens Nein. In meinem Kopf sammeln sich die Gedanken und festigen sich immer wieder zu einer Aussage: Vielleicht in einem anderen Leben. (Ich stelle mir vor, wie die Reaktionen wären, wenn diese Aussage nicht nur in meinem Kopf bleiben würde, sondern laut und ganz überzeugend ausgesprochen wird: Nein, danke der Nachfrage aber heute können wir leider nicht. Vielleicht in einem anderen Leben? Wie bitte? Äh, okay…) Ich muss an dieser Stelle betonen, dass Evan und ich wirklich tolle Freude haben. Die einiges für uns in Kauf nehmen, damit wir dabei sein können. Einsame Waldspaziergänge, die entlegenste Spielplätze, die kuriosesten Schwimmuhrzeiten, geopferte Bratpfannen und Fliegenklatschen, stundenlange Staubsaugergeräusche – das sind noch die harmlosesten Opfer. Ein großes Dankeschön an dieser Stelle.

Mit einem behinderten Kind ein intaktes soziales Leben zu führen, ist sehr schwer. Manchmal fast unmöglich. Ist zermürbend. Kostet unendlich viel Kraft. So ergeht es mir zumindest. Ich bin ein sehr sozialer Mensch und habe gerne Menschen um mich herum. Verabrede mich gerne. Ich liebe es Neues zu entdecken und kann mich für neue und interessante Eindrücke total begeistern. Diese Eigenschaften Evan mit auf den Weg zu geben, war mein größter Wunsch. Andere Länder zu bereisen, Veranstaltungen oder Museen zu besuchen. Bei unserem ersten und bis jetzt letzten Museumsbesuch hat Evan einem Tierexponat den Schwanz abgerissen. Nachdem ich den Schwanz provisorisch wieder angebracht habe, sind wir geflüchtet. Im Flüchten sind wir spitzenmäßig. Evan und ich könnten im Handumdrehen eine Bank ausrauben. Wir würden schon wieder weg sein, bevor man überhaupt etwas vermisst. Vielleicht unser zweites Standbein? Frau mit Kleinkind getarnt als Superman und Superwomen, bewaffnet mit Klobürsten und Bratpfannen, überfallen norddeutsche Banken.

Das kann man doch keinen zumuten! Mit das meinte eine Bekannte Evans Verhalten. Ich denke immer mal wieder über diese Aussage nach. Ist Evans Verhalten eine Zumutung? Dürfen wir nicht unter Leute gehen oder an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen? Ich habe versucht mich dieser Frage ganz wertfrei zu stellen. Kann ich anderen Menschen Evans Verhalten zumuten? Evan ist laut – sehr laut- , er ist wild – grenzenlos wild, er ist impulsiv –  unbeherrscht impulsiv. Wenn wir einen Raum betreten wird es schlagartig laut und gefühlt liegen dann alle Blicke auf uns. Es ist so ähnlich wie in einem Wilden Westen Film. Der Sheriff betritt den Saloon und abrupt ruhen alle Blicke auf ihn. Die Bösewichte merken sofort, dass er nicht zu ihnen gehört. Nicht zu ihresgleichen. So ähnlich ergeht es mir und Evan, wenn wir ein Café betreten. (Das bedeutet nicht, dass Evan und ich die guten und die anderen Café Besucher die schlechten sind – ist nur ein anschauliches Beispiel.)

Inklusion. An dieses Thema denke ich, wenn ich unser soziales Leben vor Augen habe. Inklusion. Wie schön. Ein schöner Traum. Noch. Für uns zumindest. Evan und ich gehen in Behindertencafés. Besuchen Veranstaltungen von und für Behinderte. Fahren zu den entlegensten Spielplätzen. Suchen einsame Waldwege. Leider gibt es Ikea noch nicht in unserer Version. Wir wären dort definitiv Stammkunden! In Deutschland gibt es Altenheime für ältere Menschen. Psychiatrien für psychisch kranke Menschen und Behindertenheime für behinderte Menschen. Jeder scheint in Gruppen aufgeteilt zu sein und bleibt unter seinesgleichen. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bin für Inklusion. Ein richtiger Fan. Falls die Inklusion für das Amt des Präsidenten kandidieren würde, würden Evan und ich in der ersten Reihe sitzen und ihr/ihm zujubeln. Wir hätten riesige Schilder: Go Inklusion, Go! Evan hätte bestimmt seine Gitarre dabei und würde der Inklusion einen Wahlkampfsong widmen, der würde dann so ähnlich wie Old Mc Donald Had a Farm klingen, aber egal! Die Geste zählt doch bekanntlich. Solange Inklusion nur in der Theorie gut klingt, so ähnlich wie eine sehr gut durchdachte Wahlkampfkampagne, bleibt es leider nur eine Theorie. Inklusion fängt in den Köpfen der Menschen an. Wer von vornherein nicht ausgegrenzt wird, der muss nicht erst integriert werden.

Ich wünsche mir Veranstaltungen bei denen wir ausdrücklich erwünscht sind und Evan auf seine Art teilnehmen kann. Ich wünsche mir Kinos oder Theatervorstellungen, in denen einfach fröhlich weiter zugeschaut wird, auch wenn Evan im Gang herumtanzt oder das Theaterstück auf seiner Gitarre begleitet. Wir wünschen uns uneingeschränkt am Leben teilzunehmen. Ist das utopisch oder sogar unverschämt dieses zu verlangen? Wenn es nach der Inklusion geht, dann nicht:

„Inklusion heißt, dass Menschen mit Behinderung ihr Leben nicht mehr an vorhandene Strukturen anpassen müssen, sondern dass die Gesellschaft Strukturen schafft, die jedem Menschen – auch den Menschen mit Behinderung – ermöglichen, von Anfang an ein wertvoller Teil der Gesellschaft zu sein.“ (Quelle: Bayrisches Staatsministerium für Arbeit und Soziales, Familie und Integration).

Ist Evans Verhalten eine Zumutung? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Vielleicht ist es das für manche Menschen. Aber trotzdem haben wir den Wunsch am Leben teilzunehmen. Natürlich muss auch Evan sich in der Gesellschaft an Grenzen und gewisse Regeln halten. Aber er wird sich nie gesellschaftskonform und den Erwartungen anderen entsprechend verhalten. Der Autismus ist nicht nur eine Diagnose. Es ist unser Leben. Ich kann diesen Satz nicht oft genug betonen. In einer Welt zu Recht zukommen, oder sogar zu überleben, die nicht autistengerecht ist, ist eine tägliche Anstrengung und Herausforderung. Für Evan, für seinen Bruder und für mich. Wir stellen uns dieser Anstrengung. Jeden Tag aufs Neue. Wir gehen schwimmen, meistens, wenn das Bad leer ist –  aber wir gehen. Wir verabreden uns. Wir fahren in den Urlaub. Gehen ins Abenteuerland, eine Stunde vor Schließzeit. Wir gehen zu Theatervorstellungen – in der letzten Reihe damit wir schnell und unerkannt flüchten können. Nach manchen Erlebnissen denke ich, das mache ich nie wieder! Um nach ein paar Tagen festzustellen, es doch wieder ausprobieren zu wollen. Evan und ich lieben das Leben und möchten Teil dieser Gesellschaft sein. Wir möchten uns nicht zu Hause einschließen. Ich bin sehr dankbar, dass ich noch die Kraft besitze mich, Evan und seinem Bruder durch diese Erlebnisse zu tragen. Negative Erfahrungen dank meines undurchdringlichen – (meistens)- Mutterschild von Evan fernzuhalten, damit Evan lächelnd durchs Leben spazieren kann und weiter an das Gute im Leben und in den Menschen glaubt. Ich möchte, dass seine kleine unabhängige Seele in Ruhe und voller Vertrauen wachsen kann. Ich muss zugeben, dass dieses Mutterschild schon sehr gelitten hat und an einigen Stellen nur noch aus Gewohnheit hält. Aber es hält. Noch.

Auch wenn Evan in seinem Leben schon einige negative Erfahrungen, erleben musste, hat dieser wundervolle Junge die Gabe, liebevoll auf Menschen zuzugehen, sie einfach an die Hand zu nehmen und schlichtweg an das Gute in jedem Menschen zu glauben. Ganz ohne Vorbehalte. Egal welcher Abstammung, welche Behinderung oder welcher sozialen Schicht sie angehören. Ist das nicht großartig?! In solchen Momente denke ich immer, dass dieser kleine Junge mir und vielen anderen so viel voraus hat. Evan lebt Inklusion.

Ich glaube auch Inklusion hat ihre Grenzen aber trotzdem halten wir an einer Welt ohne Schubladen – Kompromiss: Mini Schubladen- fest. Wir glauben ganz fest daran irgendwann Ehrengäste in der ersten Reihe zu sein. In diesem Leben. Herzlich Willkommen, kleiner Evan! Idiotisch? Egal.

 

Hauptsache geliebt.

Ich mag keine Konsumtage wie Vattertag, Valentinstag oder Muttertag. da ich keinen speziellen Tag für diese Anlässe brauche. Heute ist Welt Down Syndrom Tag und diesen Tag finde ich wichtig und gut. Wichtig, um für Vielfalt und Teilhabe zu werben und dafür, dass Menschen mit Down Syndrom unser Leben und unsere Gesellschaft bereichern.

Blond oder dunkel? Junge oder Mädchen? Egal, Hauptsache gesund. Genau, Hauptsache gesund! Feindiagnostik, Fruchtwasseruntersuchungen, Bluttests – die Möglichkeiten ein gesundes Kind zu bekommen steigen. Hauptsache gesund. Eine Floskel. Eine Feststellung. Eine Selbstverständlichkeit. Wir leben in einem Optimierungszeitalter und einer Leistungsgesellschaft. Heutzutage ist das Streben nach dem Glück und nach dem Optimum allgegenwärtig. Wir optimieren unser Aussehen, unsere Beziehungen. Besuchen Seminare, um unser Leben zu optimieren. Es gibt etliche Anleitungen und Ratgeber für ein erfolgreiches, glückliches und unbeschwertes Leben (einige von Ihnen habe ich sogar zu Hause – allerdings noch ungelesen, vielleicht sollte ich das mal ändern).

Wusstest Du denn nicht vorher, dass Dein Sohn krank ist? Doch, das wusste ich. Hauptsache gesund? Hauptsache lebendig, war unsere Devise. Für mich gab es nie eine andere Alternative als mich bewusst für Evan zu entscheiden. Es wäre gelogen zu behaupten, dass ich mir vor 5 Jahren kein gesundes Kind gewünscht hätte. Damals hatte ich nicht den geringsten Zweifel, dass mein Kind nicht gesund sein könnte. Hauptsache gesund, das wird einem von klein auf mitgegeben, also warum sollte ich kein gesundes Kind bekommen? Hauptsache gesund. Woher kommt das? Natürlich wünscht sich jede Mutter und jeder Vater, dass es dem eigenen Kind gut geht und es keine körperlichen Schmerzen erleiden muss. Das waren auch meine Gedanken. Ich habe mir weniger Gedanken um Evans körperliche und geistige Einschränkungen gemacht als um die “Qualen” der vielen Operationen und Behandlungen, die er in seinen ersten Lebenswochen über sich ergehen lassen musste. Aus Hauptsache gesund wurde in ein paar Minuten Hauptsache lebendig.

Körperliche Behinderung. Geistige Behinderung – für viele Menschen scheint es einen großen Unterschied bezüglich der Lebensqualität der Behinderungen zu geben. Ich habe es damals als sehr grenzwertig empfunden – als müsse ich mich weniger auf mein Kind freuen, da das Statement “Hauptsache gesund” in unserem Falle nicht mehr zutraf. Doch ich war (von Sorgen besorgt) überglücklich. Egal ob mit Behinderung oder ohne. Für mich war es eine Selbstverständlichkeit, mich auf mein “krankes Kind” zu freuen. Mein geliebtes Kind was mir damals schon krank die Welt bedeutet hat. Eltern die kranke oder behinderte Kinder haben, freuen sich genauso an und über ihre Kinder. Ich bin weder ein Gutmensch noch möchte ich einen moralischen Zeigefinger hochhalten. Es ist keine selbstverständliche moralische Pflicht, ein voraussichtlich stark behindertes Kind zur Welt zu bringen und ich würde mir nie anmaßen darüber zu urteilen. Ich bin mir sehr sicher, dass es sich betroffene Eltern mit ihrer Entscheidung für oder gegen eine Fortsetzung der Schwangerschaft alles andere als leicht machen und jede Einzelentscheidung mit guten Gründen getroffen wird und ihre Berechtigung hat.

Allerdings ist es mir ist es eine Herzangelegenheit, dass die Behinderung eines Menschen nicht zum Maßstab für seinen Wert und seine Lebensqualität gemacht wird. Ist er denn überhaupt glücklich? Hat er ein lebenswertes Leben? Diese und ähnliche Fragen habe ich oft in der Vergangenheit gehört und ich werde immer mal wieder mit ihnen konfrontiert. Bedeutet eine Behinderung gleich, dass das Leben weniger fröhlich oder sogar weniger lebenswert ist? Ich habe den Eindruck, dass nur ein gesundes Leben für viele Menschen ein wirklich lebenswertes Leben ist. Schon vor der Geburt projiziert man oftmals seine eigene Wünsche und Erwartungen auf das Kind (ich zumindest habe das gemacht). Mit 6 Jahren spielt er bestimmt Fußball und sie geht zum Ballettunterricht. Mit 18 Jahren macht er und/oder sie Abitur. Danach wird studiert. Vorher vielleicht noch eine Weltreise gemacht. Erwartungen. Falls diese oder ähnliche durch eine Krankheit oder Behinderung nicht eintreffen, wird oft das lebenswerte Leben angezweifelt. Es beruht auf menschlicher Selbstüberschätzung, einige Leben als nicht lebenswert zu kennzeichnen. Dabei kann niemand vorhersagen, wie lebenswert ein Leben sein wird und niemand sollte sich anmaßen, darüber zu urteilen, wie lebenswert das Leben eines anderen Menschen sein wird, war oder ist. Ich persönlich habe im Laufe der Zeit festgestellt, dass meine Ungewissheit und Angst vor der (einer) Behinderung schlimmer, als das reale Leben mit einer Behinderung, ist. Zudem hat Gesundheit wenig mit Genetik zu tun. Auch Menschen mit einer Behinderung können gesund, krank, glücklich oder unglücklich sein – so wie alle Menschen. Krankheiten und Behinderungen gehören zu unserem Leben auf dieser Erde dazu. Ich muss damit rechnen, dass mein Kind früher oder später krank werden kann.

Warum haben wir eine solch große Angst vor einem behinderten Kind? “Hauptsache gesund” ist ein so großer Teil unserer Gesellschaft geworden. Meiner Meinung nach ist der Gedanke der Inklusion noch nicht angekommen. Menschen mit und ohne Behinderung wissen nach wie vor zu wenig übereinander, es gibt einfach zu wenig Berührungspunkte. Ich bin mir sicher, dass der Wille zur inklusiven Gesellschaft da ist, es aber noch massiv an der Umsetzung und an der “richten Einstellung” fehlt. Die Normen und Werte unserer heutigen Gesellschaft sind fast ausschließlich von nichtbehinderten Menschen geprägt und daher passiert es sehr schnell, dass wir uns über lebenswerte und nicht lebenswerte Leben die Köpfe zerbrechen. Nehmen wir einfach mal an, dass unsere Kultur (Werte und Normen) eine andere wäre und wir überzeugt wären, dass wir mit einem Kind mit Trisomie 21, genauso gut zurecht kommen würden, wie mit einem Kind, dass eine Brille benötigt. Für einige vielleicht ein seltsamer Vergleich aber mir gefällt diese Vorstellung und die Einstellung dahinter sehr. Das “Problem” ist nicht die Behinderung sondern oftmals unsere Kultur.

Autismus kann man nicht (noch nicht) durch eine pränatale Diagnostik feststellen. Wenn dies in den ersten Wochen einer Schwangerschaft möglich wäre, wie hoch wären die Abtreibungszahlen? Eine Frage, die ich mir in letzter Zeit immer mal wieder stelle.

Ich habe in den letzten Jahren etwas sehr wichtiges und essentielles gelernt: Demut. Demut vor dem Leben. Was habe ich noch gelernt? Dass das Wort Demut das Wort Mut beinhaltet. Mut für das Leben. Manchmal wird aus Hauptsache gesund, Hauptsache lebendig. Aber für mich das Wichtigste: Hauptsache geliebt.

Eine Wilde Bande ist zusammengewachsen.

Zusammenhalt. Zusammenwachsen. Zusammen sind wir stark. Ich bin so berührt wie schnell diese wundervolle Gruppe von Eltern, Kindern und Geschwisterkindern zusammen gewachsen ist. Wie viel Verständnis, Vertrautheit und Zusammenhalt binnen kurzer Zeit entstanden ist. Es ist ein so schönes Gefühl, so angenommen zu werden wie man ist. Das Gefühl zu haben, nicht alleine zu sein. Sich nicht schämen oder verstecken zu müssen. Nicht ausgegrenzt zu werden, sondern dazuzugehören.

Jeden Montag freut sich mein kleiner großer Michel so sehr auf diese Gruppe. Nach vielen Jahren kann ich sagen, dass er auf seine ganz eigene Weise Freundschaften geschlossen hat und dazugehört. Auf das Leben. Auf das Miteinander.

Heile Welt.

Urlaub. Erholung. Ruhe. Auspannen. Familienzeit. Die Seele baumeln lassen. Urlaub vom Alltag.

Urlaub. Unsicherheit. Angst. Streit. Stress. Unruhe. Verzweiflung. Trauer. Tränen. Urlaub vom Urlaub.

Ein Wort. Zwei Welten. Letzteres trifft auf uns zu. Ersteres meine ich des Öfteren in meinem weiteren Umfeld zu verhören. Urlaub – eigentlich ein so schönes Wort. Verbunden mit so vielen positiven Ereignissen und Empfindungen. Eigentlich. Ja, eigentlich. Denn bei uns ist es oft, meistens, anders. Normalerweise brauche ich Urlaub vom Urlaub. Mit einem behinderten Kind in den Urlaub zu fahren ist oftmals, fast immer, harte Arbeit, die meistens mit der neuen Umgebung und den neuen Gewohnheiten zu tun haben. Hinzu kommt, dass der normale Alltag pausiert und auf einmal ein neuer Tagesrhythmus herrscht.

Warum dann überhaupt in den Urlaub fahren? Das ist eine gute Frage. Trotz aller Anstrengungen, habe ich immer wieder das Bedürfnis nach Urlaub. Nach Erholung, nach positiven Ereignissen und Erfahrungen. Das Bedürfnis nach Normalität. Natürlich können wir auch zu Hause bleiben, aber mein Bedürfnis nach einem Stück heile Welt überwiegt. Ich bin mir bewusst, dass Urlaub nichts mit einer heilen Welt zu tun hat und dass es darüber hinaus, viele Familien gibt, die nicht in den Urlaub fahren und fahren können. Ich kann es leider nicht besser erklären, außer dass ich einen tiefen Wunsch nach Urlaub empfinde. Zudem möchte ich meinen Kindern eine Freude machen. Evan ist gerne unterwegs, immer auf der Suche nach neuen Abenteuern. Ich habe oftmals das Gefühl, dass wir im Alltag schon auf so vieles verzichten müssen, dass ich mir den Urlaub nicht auch noch nehmen lassen möchte.  Ich halte ihn fest. Ganz fest. Ich umklammere ihn regelrecht. Er versucht sich immer wieder aus meiner Umarmung zu lösen aber ich lasse ihn nicht los. Wie eine Uroma, die ihrem Enkel einen Kuss auf die Wange aufzwingen möchte und dieser versucht sich mit aller Kraft zu befreien. Meistens gewinnt der Stärkere. In meinem Falle, bin ich mir -noch- nicht sicher. 

Ich habe in der Vergangenheit schon einige Formen von Urlauben ausprobiert und immer wieder etwas dazu gelernt. Ich versuche so gut wie es geht, nichts dem Zufall zu überlassen und im Vorfeld schon offene Fragen zu klären. Alles abzuwägen. Was einigen Menschen kleinlich und pedantisch vorkommen mag, kann für uns lebenswichtig sein, wie ein geschlossenes Grundstück, oder bedeutet ein Schritt in Richtung Freiheit. Ein Stück Entspannung. Zumindest für einen kurzen Moment. Dieses Jahr haben wir ein Ferienhaus in Dänemark, mit eigenen Pool und Whirlpool, sowie einem geschlossenem Grundstück ausprobiert und was soll ich sagen? Es war okay. Nur okay mögen sich jetzt einige fragen aber okay bedeutet okay. Ich würde sogar behaupten, dass es von allen Urlauben bis jetzt der beste Urlaub war. Also ein gutes okay, denn unsere Urlaube verlaufen nicht wie andere Urlaube. Es ist ein schmaler Grad zwischen Erholung, Erschöpfung, Glück, Freude und Angst, Trauer und Verzweiflung. Also ist ein gutes okay, gar nicht schlecht.

Nachdem der Urlaub vorbei ist und ich ein bisschen Abstand habe, überkommt mich ein weiteres Gefühl. Die Dankbarkeit. Dankbar zu sein, dass wir diesen Urlaub machen konnten. Dankbarkeit für die vielen gemeinsamen Momente. Dankbarkeit für die Kraft nicht aufzugeben und immer wieder zu schauen was wie irgendwie geht und möglich ist. Und umso wichtiger, zu erkennen was nicht funktioniert und daraus zu lernen. 

Liebe Mitmenschen, lasst Euch nicht unterkriegen. So schwer, traurig, lustlos, verzweifelnd, erschöpfend und ausweglos das Leben manchmal auch erscheinen mag, es gibt immer wieder Momente des Glücks und der Freude. Manchmal sind es nur kurze Momente, wie ein leichter Sonnenstrahl, der sich versucht gegen den Regen durchzusetzen. Aber diesen kurzen Moment sollte man versuchen festzuhalten und zu genießen. Immer wieder die kleinen Auszeiten und schönen Momente zu inhalieren und sich von den Stürmen nicht unterkriegen zu lassen. Das klingt alles sehr theatralisch, wie in einem Rosemunde Pilcher Film, aber so ergeht es mir des Öfteren. Ich fühle mich oft überfordert und bin verzweifelt aber ich lasse die guten Momente nicht los. Ich versuche immer wieder Inseln des Alltages zu erschaffen. Ich lasse den Urlaub nicht aus meiner Umarmung frei. Manchmal schafft er es kurz, sich zu befreien aber bevor er sich umschauen kann, bin ich schon wieder da und halte ihn fest. Das Leben ist zu kostbar, um aufzugeben und den Kopf hängen zu lassen. Es ist okay, traurig zu sein und Dinge zu betrauern aber es ist umso wichtiger, sich immer und immer wieder auf die guten Dinge zu konzentrieren. Egal wie kurz diese auch sind. Heile Welt? Meine Welt! 

Hinhören.

“Ich kann nicht (gut) sprechen aber ich habe eine Stimme. Ich kann nicht “direkt“ antworten aber ich möchte gefragt werden. Ich kann Euch nicht immer angemessen begrüßen oder verabschieden aber ich möchte begrüßt und verabschiedet werden. Oft sitze ich abseits und erwecke den Eindruck, mich nicht zu interessieren aber ich bin auf meine Weise immer dabei. Ich möchte wahrgenommen und integriert und nicht übergangen werden.“

Heutzutage leben wir mehr und mehr in einer Welt, in der der Wert eines Menschen und sein Stellenwert in der Gesellschaft meistens nach seiner wirtschaftlichen Leistung bewertet wird. Sich in solch einer Gesellschaft zu behaupten ist schwierig für jemanden der „anscheint“ nichts zu sagen hat. Dabei hat Evan auch ohne Stimme so viel mitzuteilen. Man muss sich nur etwas mehr Zeit nehmen, einmal innehalten und wirklich hinhören. Evan kommuniziert auf so viele unterschiedliche Arten und Weise. Es sprudelt förmlich aus ihm heraus. Aber mir fällt immer mehr auf, dass dafür oft die Zeit und auch die Geduld fehlt. Oft werden Menschen, die nicht gleich als erstes laut aufschreien und sich behaupten können, nicht gehört. Manchmal auch übergangen und nicht ernst genommen. Das ist schade, da diese Menschen meistens so viel zu erzählen haben. Man muss nur richtig hinhören.

Ich denke darüber nach, wie es sein wird, wenn ich Evan nicht mehr auf meinen Schultern tragen kann. Er zu groß ist und ich zu schwach bin. Ich seine wundervolle Welt und die Brücken nicht mehr aufrechterhalten kann. Mein undurchdringliches Mutterschild langsam zu bröckeln beginnt – oder irgendwann gar nicht mehr da ist. Ich frage mich, welchen Platz wird mein kleiner Michel in so einer Welt haben?

Lieber Evan, ich wünsche ich Dir, dass Deine kleine unabhängige Seele in Ruhe und voller Vertrauen wachsen kann. Ich wünsche Dir, dass die Menschen Dich so nehmen wie Du bist und sich von Deiner einzigartigen und besonderen Art verzaubern lassen. Ich wünsche Dir, dass Deine Mitmenschen anstatt mir Dir zu reden andere Wege finden, um mit Dir zu kommunizieren und anstatt Dich zu isolieren, Abenteuer für Dich erschaffen. Ich wünsche Dir Menschen, die anstatt Dich zu bemitleiden, Dich respektieren und Dich achten und sich auf das konzentrieren was Du kannst. Ich wünsche Dir Menschen, die über den Tellerrand hinweg schauen und Dein Anderssein nicht als frech und ungehorsam, sondern als etwas Besonderes und Einzigartiges wahrnehmen und sich unendlich freuen und dankbar sind, so einen wundervollen und bezaubernden Menschen kennengelernt zu haben. Ich wünsche Dir eine Welt voller Liebe und Verständnis, eine Welt, in der Dir jemand ganz selbstverständlich eine Leiter reicht, damit Du wie die Anderen einen Apfel pflücken kannst. Eine Welt, in der es normal ist, verschieden zu sein. Zu guter Letzt wünsche ich Dir das Herz eines Löwen.

Deine Mama.