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Die wunderbare Welt des Evans – Glück kennt keine Behinderung

2 Augen schauen mich an. Sie fixieren mich regelrecht. Es gibt Tage, da habe ich das Gefühl Evan schaut mir ganz tief in die Seele. Sein Blick fesselt mich und lässt mich nicht mehr los. Dann gibt es wieder diese Tage, an denen schaut er durch mich hindurch und scheint ganz weit weg zu sein. In seiner eigenen Welt. Ich frage mich dann, wie seine Welt wohl aussehen mag. Eine Welt, in der alle Gitarren ihm gehören und es nur Laugengebäck und Nudeln gibt. Eine Welt, in der die Reihenfolge der Autos eine größere Rolle spielt als die Autos. Eine Welt voller Kikaninches und Gummibären. Eine Welt, in der Musik eine so große Rolle spielt. Evans Welt.

„Machen Sie einmal Ihre Augen zu und stellen Sie sich vor Sie sind in einem fremden Land. Sie sprechen weder die Sprache noch können Sie die Gesten und Mimiken der anderen Leute verstehen und deuten. Sie hören die Menschen sprechen, Sie hören Autos, Kindergeschrei, irgendwo bellt ein Hund. Stellen Sie sich vor, dass alles prasselt auf Sie ein ohne, dass sie es direkt zuordnen oder filtern können. So ähnlich geht es Ihrem Sohn“, dass sagte Evans Kinderpsychologin vor langer Zeit zu mir als sie versuchte mir Evans Welt näher zu bringen.

Als ich es mir am Anfang vorgestellt habe war die Vorstellung schrecklich für mich. Er ist total isoliert, habe ich nur gedacht. Gefangen in seiner eigenen Welt. Keine Möglichkeit sich auszudrücken oder sich mitzuteilen. Evan sitzt oft in unserer Abstellkammer. Dort ist kein Fenster und wenn er das Licht ausmacht, ist es absolut dunkel. Früher habe ich oft versucht ihn dort heraus zu holen. Der Junge kann doch nicht in der dunklen Abstellkammer neben dem Staubsauger und dem Besen sitzen. Doch er kann und er macht das gerne. Evan beruhigt die 20151009_171312Dunkelheit, da er keine Einflüsse filtern muss. Früher habe ich gedacht, Evan kann doch nicht stundenlang vor der Waschmaschine sitzen. Doch er kann und er macht das gerne. Früher habe ich gedacht, der arme Junge kann doch nicht stundenlang nur mit einer Klobürste Gitarre spielen. Doch er kann und er macht das sogar sehr gerne. Der arme Junge kann seinen Geburtstag und Weihnachten nicht feiern. Er versteht nicht warum so viele Leute da sind und ihm etwas geben wollen. Ehrlich gesagt findet er das sogar doof. Auf seinem letzen Geburtstag hat er seine Gäste geschubst und die Geschenke gar nicht beachtet. Die habe ich dann ausgepackt. Evan braucht keine Geburtstage oder Weihnachten.

Eltern und speziell Mütter, ich gehe mit gutem Beispiel voran,  haben oft die Vorstellung was für unsere Kinder gut ist und was ihnen Freude bereitet. Diese Vorstellungen projiziert man auf die Kinder. Ich finde die Vorstellung, länger als 2 Minuten, vor meiner Waschmaschine zu sitzen schrecklich. Ich freue mich auf Geburtstage und Weihnachten. Evan nicht. Ich musste lernen mich von meinen Vorstellungen was gut für Evan ist und was ihm Freude bereitet, zu distanzieren. Ich habe gelernt mich von meinen Wünschen und Vorstellungen zu trennen. Evan weiß genau was gut für ihn ist und genau das macht er dann auch. Evan ist sehr ehrlich. Er zeigt einem genau was er gut und was er nicht gut findet. Das gilt für Dinge, Tätigkeiten und Personen.

Manchmal schaut Evan aus dem Fenster und lacht. Ohne Grund. Er lacht einfach und hört nicht wieder auf. Er fängt auf einmal an zu tanzen und lacht oder er beobachtet wie die Blätter sich im Wind bewegen und er lacht. Wenn Evan vor der Waschmaschine sitzt lacht er oft oder wenn er auf der Klobürste seine neuesten Lieder einspielt lacht er. Evan lacht sehr viel. Er lacht, weil er glücklich ist. Evan ist sogar sehr glücklich. Ohne Weihnachten, Geburtstage oder Flugzeuge am Flughafen anschauen -das macht man doch mit Jungs?

Manchmal nimmt mich Evan mit in seine Welt. Das sind oft kurze aber intensive Momente. W20151009_152159ir spielen dann zusammen Klavier oder Gitarre. Wir musizieren generell sehr viel. Manchmal gehen wir auch einfach nur zusammen in den Wald und schauen uns zusammen die Blätter an wie sie sich im Wind bewegen. Oder wir rutschen, immer und immer wieder in der gleichen Reihenfolge gefolgt vom Gummibärchen oder Kikaninchen.

Auch wenn Evan nicht Mama oder ich hab Dich lieb sagen kann, weiß ich genau, dass er mich liebt. Wir sind mittlerweile ein eingespieltes Team geworden. Ich weiß – meistens zumindest- wenn er irgendein Laut von sich gibt was er dann möchte. Viele Leute fragen mich dann, das hast Du jetzt verstanden? Ja, das habe ich.

So skurril und seltsam Evans Welt auch manchen erscheinen mag, es ist seine WELT und genau in dieser Welt ist er glücklich. Warum also sollte ich ihn dort herausholen?

Ich liebe Evan unendlich, ich  kämpfe für das, was er braucht und ich trete für ihn ein. Wenn nicht ich, wer sonst?

Glücklich ist nicht, wer anderen so vorkommt, sondern wer sich selbst dafür hält.

Letztens im Supermarkt…

Ich habe schon ein wenig über unsere Supermarktbesuche geschrieben. Ein Supermarktbesuch ist für uns wie eine Wundertüte. Man weiß nie was drin ist und was man bekommt. Meistens weiß ich was ich bekomme und ich sage mir jedes Mal wieder: Nächstes Mal gehe ich alleine einkaufen! Aber das kann ich leider nicht immer organisieren und so passiert ist, dass Evan hin und wieder mit dabei ist und das Abenteuer Supermarkt beginnt.

Wenn Evan und ich zusammen einkaufen gehen, weiß er genau, dass er in den Einkaufswagen muss. Ich habe ein einziges Mal probiert ihn an die Hand zu nehmen aber das endete mit zerbrochenen Weinflaschen und seitdem sitzt Evan wieder im Einkaufswagen. Wenn wir zusammen einkaufen, will Evan immer den gleichen Weg abgehen. Das heißt, dass ich gezwungenermaßen fast immer die gleichen Produkte kaufen  muss, da ich nicht zu den anderen Regalen komme. Unser Einkauf beginnt und Evan bekommt als allererstes seine Laugenbrötchen – und Brezeln sowie ein Weltmeisterbrötchen. Im schlimmsten Fall sind diese Produkte ausverkauft und wir können gleich wieder gehen. Im Besten Falle aber sind sie vorrätig und wir können unseren Einkauf fortsetzen.

Durch Evan weiß ich genau wo wir langgehen müssen. Es kommt allerdings hin und wieder vor, dass unser Supermarkt eigenhändig Produkte umräumt und unser Weg plötzlich anders aussieht. Das alleine ist schon schlimm genug aber wenn dann noch Haarbürsten, Fliegenklatschen, Bratpfannen oder im schlimmsten Falle Lollys neu auf unserem Weg platziert wurden, kann ich eigentlich nur noch die Flucht ergreifen oder die 15. Fliegenklatsche oder Haarbürste kaufen.

Ohne Lollys, Evans DVD Player oder Tablet gehe ich nicht mehr einkaufen bzw. aus dem Haus. Manchmal gelingt ein Einkauf dadurch einigermaßen gut. Wenn wir fast zum Ende unseres Ausfluges angekommen sind – ich die Hälfte meines Einkaufes vergessen habe (ich bewundere die Menschen, die Einkaufszettel schreiben und sich daran halten) – läuft Evan regelmäßig zu Höchstformen auf. Die Kasse! Manchmal habe ich Glück und die Kassen sind leer und wir können direkt anfangen unsere Produkte auf das Band zu legen bzw. zu schmeißen. Wenn die Kassen jedoch voll sind und wir anstehen müssen – warten & anstehen existieren in Evans Welt nicht – dann kann ich eigentlich nur noch Ruhe bewahren oder einfach meine Kopfhörer aufsetzen, zumindest höre ich dann nichts mehr.

Letztens an der Kasse hatten Evan und ich leider kein Glück und wir mussten anstehen. Die Schlangen sahen ewig lang aus und mir standen die Schweißperlen schon auf der Stirn. Evan räumte – auch ohne Band – schon fleißig unsere Produkte aus dem Einkaufswagen. Meine Rosen, die ich mir geleistet habe, waren schon zerpflückt und lagen nett verteilt um unseren Einkaufswagen. Wenn die Situation nicht so anstrengend gewesen wäre, hätte es eigentlich schon fast etwas Romantisches haben können. Evan und ich umringt von Rosenblättern.

Dort stand ich jetzt also, etliche Leute noch vor mir und mittlerweile auch hinter mir. So langsam haben uns alle Leute wahrgenommen und wir waren interessant zu beobachten. Eine ältere Dame, die direkt vor mir stand, hat uns die ganze Zeit komisch angeschaut. Ich habe mich innerlich schon regelrecht darauf vorbereitet, dass sie ihren Mund aufmacht. Ehrlich gesagt, habe ich sogar gehofft, dass sie jetzt sagt, wie frech und ungezogen Evan doch ist und wie überfordert ich bin. Ich war bereit! Diese Dame hätte meinen ganzen Frust und Ärger abbekommen. Die Dame hat dann auch etwas gesagt, allerdings hätte ich nie damit gerechnet was sie sagt. Sie hat alle Leute, die vor uns waren, gebeten uns vor zu lassen. Somit standen Evan und ich dann irgendwann ganz vorne, zwar ohne Rosen aber dafür mit unserem Einkauf.

Ich habe der Dame nur kurz Danke gesagt, da ich so überrascht war. Das war das erste Mal, dass sich eine fremde Person so für uns eingesetzt und mich unterstützt hat und dafür möchte ich mich auf diesem Wege nochmal ganz herzlich bedanken! Ich glaube die Frau hat gar nicht gemerkt wie sehr mich ihre Handlung berührt hat. 

Erst da habe ich gemerkt, dass ich, die sich so stark für ein Leben ohne Schubladen einsetzt, selber manchmal in Schubladen denkt.

Bezweifle nie, dass eine kleine Gruppe aufmerksamer, engagierter Menschen die Welt verändern kann – in der Tat ist es nie jemand anders gewesen. (Margaret Mead)

Wie viel Anpassung ist gut und möglich?

Diese Frage stelle ich mir sehr oft. In wie weit muss oder sollte Evan an die Gesellschaft angepasst sein? Oder wie weit kann sich die Gesellschaft an Evan anpassen? Wie viel kann man Evan zumuten und wie viel der Gesellschaft? Müssen besondere Kinder gesellschaftskonform sein?

Als ich meinen Lebensweg mit Evan begann war es mir oft unangenehm immer die Lautesten zu sein und immer negativ aufzufallen. Oft habe ich mir gewünscht, nicht das lauteste Kind sondern das frechste oder das pummeligste Kind zu haben. Laut war mir einfach peinlich.
Wenn ein Kind in Evans Turngruppe oder auf dem Spielplatz weinte oder wieder etwas zu Bruch gegangen ist, habe ich gehofft und innerlich gebetet, dass es dieses Mal nicht Evan ist. Meistens war das aber leider nicht der Fall. Es gab Momente, da bin ich während Evans Turngruppe mehrmals auf die Toilette gegangen und habe die Gruppenleitung gefragt, ob sie kurz auf Evan aufpassen könnte, damit ich nur einen Moment Ruhe habe. Ich habe dann im Bad gesessen und habe die Stille genossen und für einen kurzen, sehr kurzen Moment, mal nicht verantwortlich zu sein. Die Gruppenleiterin muss gedacht haben, dass ich unter ständiger Blasenentzündung litt.

Es ist sehr schwierig fremden Leuten aber auch Freunden, manchmal sogar der eigenen Familie,  zu erklären, was der Alltag mit einem besonderen Kind bedeutet. Ich bekomme oft zu hören, dass Evan ja so normal aussieht und dass sich die vorübergehenden Schwächen schon wieder legen werden oder dass alle Kinder schwierig sind. Ich weiß, dass auch gesunde Kinder anstrengend sind und einen oft an den Rand der Verzweiflung bringen. Aber bitte glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass man ein besonderes Kind NICHT mit einem gesunden Kind vergleichen kann. Ich passe oft auf die Kinder einer Freundin auf. Das ist auch anstrengend, aber einfach anders anstrengend. Mit Evan fühle ich mich oft so, als ob ich permanent mit einem Bein in der Luft stehe, immer Absprung bereit. Immer unter Strom und gewappnet für den nächsten Alltagskampf. Immer auf der Suche nach neuen „Alltagsproblemen“ und deren Lösungen. Wenn ich mit Evan unterwegs bin, gehe ich permanent im Kopf alle möglichen Gefahren ab und versuche viele davon zu umgehen. Das ist leider nicht immer möglich und so kommt es dazu, dass gewisse Situationen aufkommen, die für die Gesellschaft schwer nachzuvollziehen sind.

Evan mag es nicht, wenn Türen geöffnet sind, egal welche Tür und egal von wem. Er schließt alle offenen Türen. Gewisse Handlungen brauchen immer die gleichen Abläufe und Rituale. Egal ob wir zu Hause sind oder unterwegs. Evan interessiert es nicht, ob ich betroffen20151007_185453 bin oder jemand fremdes. Wenn Evan eine Gitarre sieht,  ist es ihm egal wem diese Gitarre gehört. In seiner Welt gehören ihm alle Gitarren. Ich versuche im Supermarkt daher immer die Kosmetikabteilung mit den Haarbürsten zu umgehen, da diese einer Gitarre stark ähneln. Nicht zu vergessen, die Klohbürsten! Wenn Evan auf dem Spielplatz ist und Kinder in einer bestimmten Reihenfolge rutschen, möchte Evan diese Reihenfolge beibehalten. Wenn diese Reihenfolge verändert wird, ärgert er sich nicht nur, sondern seine Welt ist dann nicht mehr in Ordnung. Lichtschalter müssen mindestens 2x angeschaltet und ausgeschaltet werden. Egal ob die Leute dann im Dunkeln sitzen oder nicht. Gegenstände mit Rädern gehören Evan. Egal ob aus Plastik, Holz oder auch aus Glas. Wasser kann Evan nicht umgehen. Er möchte schwimmen. Egal welches Wasser, egal zu welcher Jahreszeit oder in welcher Bekleidung. Pausen kennt Evan nicht. Er ist immer in Aktion und muss in Bewegung sein. Egal ob in der großen Sporthalle, im Bus oder in der Bahn. Sitzen bleiben macht für ihn einfach keinen Sinn. Süßigkeiten, Laugenbrezeln und Lollys gehören Evan. Egal ob im Regal oder in fremden Händen. In seiner Welt gehören sie ihm. Einkaufswagen oder Buggys müssen immer in einer bestimmten Reihenfolge geschoben werden und mit bestimmten Intervallen. In Evans Welt ist das einfach so. Wenn er Hunde sieht werden diese genauestens imitiert. Egal in welcher Richtung sie gerade unterwegs sind oder was sie wie und wo machen.

Dies ist nur ein kleiner Ausschnitt wie Evan seine Welt wahrnimmt und lebt. Diese Welt ist oftmals sehr schwer mit der wirklichen Welt in Einklang zu bringen. Es gibt Leute, denen macht es nichts, wenn Evan deren Autotür zum 3. Mal schließt. Es gibt Hundebesitzer, die einfach ein Stück in unsere Richtung mitlaufen oder uns sogar ganz bis zum Auto begleiten und es gibt Gitarrenspieler, die zum Glück eine Luftgitarre bei Ihren Auftritten dabei haben. Aber es gibt auch diejenigen, denen das Licht ausmachen schon zu viel ist. Es geht mir nicht darum, diese Leute zu verurteilen. Jeder hat sein Päckchen zu tragen und vielleicht ist es an dem einen bestimmten Tag schon zu viel, wenn das Licht ausgeschaltet wird und man für einige Sekunden im Dunkeln sitzt. Ich will nur damit sagen, dass ich versuche so viele „Alltagsprobleme“ wie möglich zu umgehen, aber es bleiben immer noch etliche. Man kann nicht jeden Kampf gewinnen. Daher suche ich mir mittlerweile meine Kämpfe genau aus.

In Evans ehemaliger Sportgruppe hat eine Mutter mal zu mir gesagt, dass ich die Mütter von gesunden Kindern auch verstehen müsste. Mit den gesunden Kindern wird immer geschimpft und Evan macht manche Sachen einfach so. Liebe Sportmama, ich würde gerne tauschen und würde mir wünschen, wenn ich mit Evan schimpfen könnte und eine Reaktion erhalten würde. Nur leider versteht Evan manche Sachen einfach nicht. Es gibt Situationen, in denen bin ich sehr streng und ich kämpfe diesen Kampf bis zum bitteren Ende. Evan darf keine Kinder hauen oder beißen. Er darf auch nicht fremde Sachen kaputt machen oder einfach auf die Straße laufen oder von der Brücke in die Weser springen. Aber es gibt einfach Situationen, die finde ich MITTLERWEILE harmlos und schenke ihnen keine, oder nicht mehr soviel, Beachtung. Wenn ich jeden Kampf auf mich nehmen würde, könnte ich unser Haus nicht mehr verlassen.

Ich hatte vor längerer Zeit die Möglichkeit in einem Elternprogramm mitzumachen, in denen autistische Kinder an 6 Tagen die Woche für jeweils 5 Stunden an einem ABA  (Applied Behavior Analysis / Angewandte Verhaltensanalyse) Training teilnehmen. In diesem Training geht es darum autistischen Kindern bestimmte Verhaltensregeln beizubringen bzw. einzuflößen. Es ist eine klassische Form der Konditionierung von Verhalten. Diese wird oft bei frühkindlichen Autismus angewandt aber auch bei der modernen Abrichtung von Hunden und Zirkustieren genutzt. Nach vielen Recherchen und Berichten habe ich mich allerdings dagegen entschieden. Es gibt viele Leute, die die ABA Methode unterstützen und das muss auch jeder für sich selber entscheiden. Für mich ist ABA das Lernen vom absoluten Gehorsam ohne hinterfragen zu dürfen. Das Training hätte bestimmt einiges in unserem Leben und Alltag einfacher gemacht. Es hätte Evan ein wenig gesellschaftskonformer gemacht aber zu welchem Preis?

Ich möchte, dass Evan lernt sich an bestimmte Regeln zu halten, damit er im Alltag zurechtkommt aber ich möchte nicht seine Persönlichkeit ändern oder ihn dressieren wie er sich zu verhalten hat. Alles was er dann instinktiv, also von sich aus machen würde, wäre falsch. Der Autismus gehört zu Evan. Es ist sein/unser Leben und nicht nur eine Diagnose.

Es ist der Alltag, der mich und Evan immer wieder aufs Neue fordert. In einer Welt zu bestehen, die nicht autistengerecht ist. Wir sind  übrigens immer noch die Lautesten aber mittlerweile trage ich Kopfhörer.

Wir haben den scheinbar Nichtbehinderten klarzumachen, dass ihre Unfähigkeit, Behinderte als Gleiche zu begreifen, ihre eigene Behinderung ist. (Ernst Klee)

Inseln schaffen und leben

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Wir müssen bereit sein, uns von dem Leben zu lösen, das wir geplant haben, damit wir das Leben finden, das auf uns wartet (Joseph Campbell)…

Dieser Spruch begleitet mich jetzt schon seit einiger Zeit, eigentlich seit dem Tag als ich von Evans Herzfehler erfahren habe. Ich habe lange Zeit in Brüssel gearbeitet und war in meinem Job sehr glücklich. Ich bin viel gereist und konnte mich auf vielen Gebieten weiterentwickeln, privat wie auch beruflich. Durch Evans Herzdiagnose und seinem Autismus hat sich mein Leben von heute auf morgen geändert. Aus Brüssel wurde ein kleines Dorf bei Bremen. Die Reisen kann ich nicht mehr machen und beruflich…? Jetzt werden viele Eltern mit gesunden Kindern sagen, dass jeder, der Kinder hat, diese Einschränkungen kennt und hat. Und das stimmt auch. Allerdings sind diese Einschränkungen mit einem behinderten Kind viel einschneidener. Oftmals hat man das Gefühl, dass man sich komplett selber aufgeben muss. Und ich glaube, dass passiert auch zum Teil. Früher hatte ich die Vorstellungen, dass sich mein Kind an mein Leben anpassen muss und nicht andersrum. Ich habe mich schon auf tollen Konzerten mit meinem Kind – mit riesen Kopfhörern versteht sich – gesehen. Museen besuchen, zusammen auf Reisen gehen,  einfach gemeinsam die Welt entdecken. Reisen könnte ich jetzt nach Schweden in ein einsames Landhaus und bei unserem letzten und einzigen Museums Besuch hat Evan einem ausgestopftem Tier den Kopf abgerissen.

Evans Kinderpsychologin sagte etwas sehr Ehrliches zu mir: „Frau Becker, ihr Kind wird ihr Leben bestimmen, und nicht andersrum.“ Damals wollte ich es nicht wahrhaben. Aber sie hatte Recht. In erster Linie bestimmt Evan was wir wann, wo und vor allem WIE wir etwas machen. Natürlich gibt es Regeln und ich entscheide wann wir/ich einkaufen gehen. Aber Evans Autismuserkrankung bestimmt unser ganzes Leben und ganz besonders unseren Alltag. Manchmal überkommt es mich aber doch und ich reiße voller Elan und Enthusiasmus das Ruder an mich – ich fahre in eine Shopping Mall oder gehe in ein völlig überfülltes Freibad – um es dann aber wieder ganz schnell abgeben zu können. Viele meiner Freundinnen oder sogar Evans Therapeuten fragen mich, warum ich mir diesen Stress immer wieder antue und nicht einfach mit Evan zu Hause bleibe. Es gibt Sachen, die mache ich mit Evan nicht mehr wie z.B. ein Restaurantbesuch oder in ein super überfülltes Freibad zu gehen. Aber ich möchte mich nicht völlig zurückziehen und nur zu Hause bleiben. Auch wenn gewisse Situationen stressig sind, überwiegt immer noch der Moment. Und solange das so bleibt werde ich auch weiterhin nach Italien in den Urlaub fahren und nicht nach Schweden.

Ich habe mittlerweile gelernt mir meine Inseln zu schaffen. Das sind manchmal nur kleine Momente. Auf dem Spielplatz in der Sonne zu sitzen  und dabei Sushi zu essen und einen Sekt aus der Dose zu trinken.  Ich nehme auch gerne weite Autofahrten in Kauf nur um einen verlassenen Spielplatz oder Waldgebiet zu finden. Inseln zu schaffen und zu haben sind lebenswichtig. Mittlerweile habe ich auch gelernt mir meinen Raum – auch mit Evan – zu nehmen. Was ich früher als „Mich Aufgeben“ empfunden habe, ist mehr zu einer Art Hingabe oder Aufgabe geworden. Mit Evan zusammen ich selber zu bleiben musste ich erst lernen und ich lerne immer wieder dazu. Manchmal funktioniert es gut und manchmal weniger. Es gibt Tagen, an denen bin ich fast am Verzweifeln, da ich noch nicht einmal kurz etwas einkaufen kann oder das Einsteigen ins Auto schon alleine eine halbe Stunde dauert. Aber es gibt auch diese ganz besonderen Tage und Erlebnisse. Irgendwie habe ich es geschafft, dass diese Tage länger im Gedächtnis bleiben. Die schlechten Tagen oder Erlebnisse werden „RELATIV“ schnell wieder gelöscht.

Ein ganz besonderer Dank gilt an dieser Stelle meinen Eltern. Evans Großeltern, die es mir ermöglichen meine Inseln zu schaffen und wieder Kraft für den Alltag zu bekommen!

Trotz all dieser Einschränkungen könnte ich mir mein Leben mittlerweile nicht mehr anders vorstellen. Durch Evans Erkrankung habe ich einzigartige und ganz besondere Menschen kennengelernt, die ich mit einem gesunden Kind nie kennengelernt hätte und dafür bin ich sehr dankbar. Ich wurde schon oft gefragt, ob ich mir nicht ein gesundes Kind wünschen würde. Ich kann diese Frage gar nicht beantworten. Natürlich würde ich mir wünschen, dass Evan gesund ist. Aber so ist es nun mal nicht. Und sich sein Kind anders vorzustellen? Das kann und will ich nicht!

Der ganz normale Wahnsinn oder einfach gesagt: Unser Alltag!

Es ist oft schwierig zu beschreiben wie Evans Autismus Erkrankung unseren Alltag bestimmt. Wenn ich Evan ansehe, sehe ich auch nicht die Erkrankung sondern ich sehe ein einzigartiges und besonderes Kind mit einzigartigen und sehr besonderen Bedürfnissen. Heutzutage ist es allerdings schwierig diese Bedürfnisse ausleben zu können. Ich bin mir darüber im Klaren, dass sich auch Evan an bestimmte Regeln halten muss. Ich versuche aber diese Regeln so weit es geht auszuweiten. E2015-07-27 12.03.37van soll sich im Leben zurecht finden. Er soll und braucht aber nicht gesellschaftskonform sein. Der Autismus gehört zu ihm und zeichnet ihn aus. Er ist Teil seiner Persönlichkeit und diese möchte ich nicht verändern. In den Beispielen anbei versuche ich einen kleinen Einblick in unseren Alltag zu geben. 

Evan liebt sein Gummibärchen und seine Kikaninchen. Meistens sind sie mit dabei, wenn wir das Haus verlassen. Manchmal muss aber auch noch das Bobbycar oder sein Laufrad mit, ansonsten können wir nicht losfahren. (Es gibt Tage, da können wir wirklich nicht losfahren, da ich Evan nicht überreden kann in seinen Kindersitz zu gehen). So ziehen wir dann von dannen. Das bedeutet, dass das Auto vor dem Einkauf eigentlich schon voll ist – ich habe einen Kleinwagen. Wenn der Rehabuggy dann auch noch im Kofferraum ist, sieht es schon fast so aus, als ob wir in den Urlaub fahren. Mittlerweile haben unsere Nachbarn verstanden, dass wir nur kurz einkaufen fahren und leider gleich wieder kommen.

Wenn Evan und ich einen Raum, den Supermarkt, ein Kaffee oder das Schwimmbad betreten wird es sehr laut und manchmal fühlt es sich so an, als ob wir alle Blicke auf uns IMG-20150919-WA0035ziehen. Zumindest dann, wenn Evan mal wieder etliche Weinflaschen bei Aldi zu Bruch bringt oder meine Rosen an der Kasse sorgfältig zerpflückt. Einer meiner vielen Strategien ist das Singen. Evan liebt Musik und daher habe ich das Gefühl, dass ihn mein Singen beruhigt. Zumindest höre ich ihn dann nicht mehr ganz so laut schreien und das beruhigt mich dann wiederum. Am Liebsten spielt Evan Gitarre –  egal wo wir gerade sind. Er besaß schon weit mehr als 6 Holzgitarren. Da Evan aber ein richtiger Musiker ist, zerstört er seine Gitarren recht zügig. Allerdings ist schnell für Ersatz gesorgt. Denn Klobürsten (ungenutzt versteht sich), Haarbürsten, Pfannen, Fliegenklatschen etc. haben zum Glück alle die gleiche Form und können ebenfalls zu Gitarren umfunktioniert werden – mir ist früher gar nicht aufgefallen, was alles die Form einer Gitarre hat. Ich kann immer noch nicht fassen, dass viele Menschen wirklich glauben, dass ich meinen Sohn mit einer benutzen Klobürste spielen lasse!

Wenn ich mit Evan spiele, geht es meistens darum wie ich Gegenstände halte. Wenn wir Gitarre spielen, geht es eigentlich mehr darum, wie ich die Gitarre halte. Es muss immer genau identisch sein, ansonsten ist das Spiel vorbei; und das Spiel ist meistens sehr schnell vorbei. Klavier spielen Evan und ich auch sehr gerne. Allerdings darf ich immer nur das gleiche Lied spielen: Freude schöner Götterfunken. Das kann ich mittlerweile richtig gut. Sehr zum Leidwesen unserer Nachbarn. Wiederholungen und Reihenfolgen sind für Evan sehr wichtig.  Egal ob wir zusammen rutschen, Trampolin springen oder mit seiner Kugelbahn spielen, die Reihenfolge & Wiederholungen sind nicht zu vernachlässigen.

Evan hat eine Vorliebe für alles was sich dreht. Auto- oder Fahrradräder, die Räder eines Einkaufswagens. Am Meisten aber liebt Evan Waschmaschinen. Diese schafft es sogar, dass Evan mal für gute 30 Minuten bei ihr sitzt und ihr beim Waschen zuschaut oder einfach selber wäscht, indem er fleißig und hochkonzentriert die Trommel dreht, in einer bestimmten Reihenfolge versteht sich.

Wenn wir in unser Lieblingskaufhaus gehen, fährt Evan am Liebsten Rolltreppe. Eigentlich fahren wir nur Rolltreppe, wenn wir in unser Lieblingskaufhaus gehen.

Evan liebt Schokolade und Süßigkeiten, egal auf welchen Tellern sie sind. Diese Tatsache und das Evan leider nicht länger als genau 5 Sekunden sitzen bleibt, sind die Gründe warum Restaurantbesuche bei uns immer sehr kurz sind. Mittlerweile ist unsere Auswahl an Kaffees oder Restaurants sehr geschrumpft. Eigentlich gehen wir nur noch zu McDonald, und dort fahren wir durch.

Evan und ich haben einen Lieblingswald, wo wir sehr gerne spazieren gehen oder Evan Laufrad fährt. Leider dürfen wir immer nur den gleichen Weg gehen. Seit knapp 2 Jahren.

Evan schwimmt sehr gerne. Er liebt Wasser. Egal welches, ob See, Fluss, Pfütze, Teich oder Regentonnen. Wenn er Wasser sieht, will er hineingehen. Leider lassen Evan meine Argumente, nicht in jedes Gewässer zu jeder Jahreszeit gehen zu können, kalt. Ich habe ihn schon aus etlichen Teichen oder Regentonnen holen müssen.

Mit Vorliebe schmeißt Evan Gegenstände in die Luft oder auch von der Treppe, ganz egal wo wir sind. Am Liebsten mag er zerbrechliche Gegenstände, da diese so schön laut sind, wenn sie den Boden berühren. Meine Heißklebepistole ist mittlerweile mein bester Freund zu Hause geworden. Ich glaube es gibt fast keinen Deko-Gegenstand mehr, der nicht geklebt wurden ist und das sieht man ihnen leider auch an. Neuerdings hat er auch das Autofenster für sich entdeckt. Nachdem Evan auf der Autobahn angefangen hatte,  Gegenstände aus dem Fenster zu werfen, habe ich sehr schnell erkannt, dass ich meine Fensterkurbel abbauen muss. Evans Spitzname ist übrigens Bam Bam (der kommt aus der Serie Familie Feuerstein & hat auch immer gerne viel Lärm und Krach gemacht).

Evan ist, was seine Freunde betrifft, nicht gerade zimperlich. Meistens laufen sie vor ihm weg. Leider mag Evan dieses Spiel und freut sich, wenn sie schreien.

Evan imitiert sehr gerne und sehr viel, aber leider auch sehr genau. Den Nachbarsjungen sowie den Nachbarshund inklusive Beinchen heben und aus der Pfütze trinken. Nein, das erlaube ich ihm natürlich nicht. Allerdings lässt sich Evan sehr ungern etwas verbieten.

Evans Lieblingsgebärde ist fertig. Evan ist allerdings der festen Überzeugung, dass wenn er diese Gebärde benutzt, auch wirklich gleich – sofort –  alles fertig sein muss. Die Gebärde Warten kennt er noch nicht.

Anstehen und Warten existieren in Evans Welt nicht. Eine Warteschlange ignoriert Evan gekonnt und am Liebsten würde er in das schon laufende Fahrgeschäft springen. Viele Leuten finden das süß und viele Leute finden das blöd. Ich treffe meistens auf Letztere.

In unserem letzten Italien Urlaub habe ich die Eltern beneidet, die auf ihren Liegen lagen und in Ruhe ein Buch gelesen haben, während ihre Kinder vor ihnen spielten. Ich war diejenige, die hinter ihrem Sohn hergelaufen ist und die Schuhe und Handtücher fremder Urlauber aus dem Pool gefischt hat. Das ist nämlich neben – Gegenstände, die Treppe runter schmeißen – auch eine seiner Lieblingsbeschäftigungen.

Ich könnte jetzt noch einige Situationen erzählen oder Beispiele für unseren ganz normalen Wahnsinn nennen… Natürlich geht es mir oft nicht gut, wenn ich in einer dieser Situationen bin. Ich bin kaputt, müde und manchmal auch einfach nur genervt und traurig. Aber so anstrengend und skurril unser Leben & Alltag auch ist, es ist unser Leben. Und ich mag unser Leben und ich liebe meinen Sohn und seine Art, Dinge zu betrachten und wahrzunehmen.

Ein behindertes Kind ist wie ein krummer Baum. Du kannst ihn nicht gerade biegen, aber du kannst ihm helfen Früchte zu tragen.

Leben mit einem behinderten Kind – Willkommen in Holland

Als ich erfahren habe, dass Evan krank ist, habe ich sehr viel im Internet recherchiert. Diese Geschichte von Emily Perl Kingsley „Willkommen in Holland“ (1987  alle Rechte vorbehalten) hat mir sehr viel Mut gemacht und erklärt genau wie ich mich gefühlt habe.

Ich werde oft gefragt, wie es ist ein behindertes Kind großziehen. Es ist wie folgt:
Wenn man ein Baby erwartet, ist das, wie wenn man eine wundervolle Reise nach Italien plant. Man deckt sich mit Reiseprospekten und Büchern über Italien ein und plant die wunderbare Reise. Man freut sich aufs Kolosseum, Michelangelos David, eine Gondelfahrt in Venedig, und man lernt vielleicht noch ein paar nützliche Brocken Italienisch. Es ist alles so aufregend. Nach Monaten ungeduldiger Erwartung kommt endlich der lang ersehnte Tag. Man packt die Koffer, und los gehts.  Einige Stunden später landet das Flugzeug. Der Steward kommt und sagt: „Willkommen in Holland.“ „Holland?!? Was meinen sie mit Holland?!? Ich habe eine Reise nach Italien gebucht! Mein ganzes Leben lang habe ich davon geträumt, nach Italien zu fahren!“

Aber der Flugplan wurde geändert. Du bist in Holland gelandet, und da musst du jetzt bleiben. Wichtig ist, die haben uns nicht in ein schreckliches, dreckiges, von Hunger, Seuchen und Krankheiten geplagtes Land gebracht. Es ist nur anders als Italien.

So, was du jetzt brauchst, sind neue Bücher und Reiseprospekte, und du musst eine neue Sprache lernen, und du triffst andere Menschen, welche du in Italien nie getroffen hättest. Es ist nur ein anderer Ort, langsamer als Italien, nicht so auffallend wie Italien. Aber nach einer gewissen Zeit an diesem Ort und wenn du dich vom Schrecken erholt hast, schaust du dich um und siehst, dass Holland Windmühlen hat… Holland hat auch Tulpen. Holland hat sogar Rembrandts.
Aber alle, die du kennst, sind sehr damit beschäftigt, von Italien zu kommen oder nach Italien zu gehen. Und für den Rest deines Lebens sagst du dir: „Ja, Italien, dorthin hätte ich auch reisen sollen, dorthin habe ich meine Reise geplant.“
Und der Schmerz darüber wird nie und nimmer vergehen, denn der Verlust dieses Traumes ist schwerwiegend.

Aber… wenn du dein Leben damit verbringst, dem verlorenen Traum der Reise nach Italien nachzutrauern, wirst du nie frei sein, die speziellen und wundervollen Dinge Hollands genießen zu können.“

Das Leben hält immer neue Träume bereit, wenn alte Träume gehen. (Robert Goddart)

Gute & schlechte Behinderung?

Meinem Sohn sieht man seine Behinderung nicht an. Und das ist auch gut so. Oder? Manchmal gibt es Tage, da stelle ich mir diese Frage. Evans Behinderung wird oft als ungehorsam oder einfach nur als frech abgestempelt. Egal, ob ich einkaufen, auf den Spielplatz, zu einer Hochzeit, in die Stadt, ins Kaffee oder ins Schwimmbad gehe. Überall  fallen wir auf und werden gleich „erkannt“. Erkannt als nicht ins System passende Menschen. Ich muss zugeben, dass das auch nicht schwer ist. Wir betreten einen Raum und es wird schlagartig laut bzw. lauter. Evan bleibt nicht an der Hand und ist generell sehr schwer lenkbar, wenn viele Leute um ihn herum sind und er keine Begrenzung mehr hat. Ich habe fast immer unseren Hilfsbuggy dabei, allerdings kann ich ihn mittlerweile nicht mehr so oft  „überreden“ sich freiwillig dort hineinzusetzen und bei fast 20 kg ist es ohne seine Zustimmung nicht einfach ihn dort hineinzusetzen. Evan kann kaum bzw. gar nicht sprechen. Er lautiert sehr viel und versucht auch nachzusprechen aber oftmals versteht er die Bedeutung des Wortes nicht. Wir haben also fast keine Möglichkeit zu kommunizieren, außer unseren Gebärden und Bildkarten (über Gebärden & Bildkarten werde ich später nochmal genauer schreiben). Bis jetzt versteht Evan ein paar einzelne Gebärden sowie Bildkarten. Es ist es im Alltag sehr schwer ihm verständlich zu machen was wir als nächstes vor haben. Stellen Sie sich vor, Sie sind in einem fremden Land mit einer fremden Sprache und vielen fremden Menschen, die Sie nicht verstehen können und deren Gesten und Mimiken Sie auch nicht lesen und deuten können. So ähnlich ergeht es meinem Sohn jeden Tag.

Mit der Zeit habe ich für den Alltag einige Strategien entwickelt. Ich gehe nie ohne Lollys, DV20150515_152232D Player (Evan liebt seine Musik DVDs), seinen Lieblingspuppen und Gummibärchen aus dem Haus. Zum Einkaufen habe ich mir ein eigenes Autismus T-Shirt zugelegt. Ich habe das Gefühl, wenn ich dieses T-Shirt trage, dass ich mich nicht ständig rechtfertigen muss, da bevor die Leute uns entlarven, wir Ihnen zuvorkommen. Meine andere  Strategie ist, dass wenn wir an der Kasse stehen, wo Evan meistens zur Höchstleistung auffährt, ich „wildgebärend“ seine GUK Gebärden anwende. Die er in dieser Form noch gar nicht verstehen kann, sie ihren Zweck allerdings sehr gut erfüllen, was ich sofort an den Reaktionen meiner Mitmenschen sehe und bemerke. Ihr Blick verändert sich schlagartig, aus Wut & Ärger wird Mitleid. Spätestens jetzt merken die Menschen, dass irgendetwas nicht stimmt. Vielleicht ist der Junge doch gar nicht so frech oder seine Mutter total überfordert sondern er hat etwas…? Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich möchte kein Mitleid. Allerdings ist mir Mitleid mittlerweile lieber als mit diesen bösen Blicken und Kommentaren zu leben. Ja, Kommentare. Es bleibt leider nicht mehr nur bei bösen Blicken. Beim Einkaufen an der Kasse durfte ich mir schon anhören, dass ich mich für mein so schlecht erzogenes Kind schämen müsste und er mal eine ordentliche Tracht Prügel benötigen würde. Im Kaffee kam eine Kellnerin, nachdem ich Evan seinen DVD Player angemacht habe, damit ich für 5 Minuten in Ruhe meinen Kaffee trinken konnte und beschwerte sich wie ich meinen Sohn mit einem DVD Player ruhig stellen könnte. Im Schwimmbad bekomme ich von dem Bademeister, trotz Behindertenausweis ein Verbot, dass ich unseren Hilfsbuggy mit ins Bad nehmen kann. Der Junge könnte ja schließlich laufen. (Nachdem er Evan im Bad erlebt hat, brachte er mir den Hilfsbuggy nach 5 Minuten nach). Ich könnte jetzt noch etliche Beispiele nennen. Ich habe bis jetzt leider nur wenig positive Beispiele erlebt. Aber ich habe welche erlebt und diesen Beispielen möchte ich später noch einen eigenen Beitrag widmen.

Mit Evan an normalen Gruppenaktivitäten teilzunehmen ist außerordentlich schwierig, da er sich einfach anders verhält. Dieses Verhalten erfordert viel Verständnis und Toleranz. Das Thema Inklusion ist für mich schwierig. Meistens hört es sich in der Theorie sehr gut an aber im alltäglichen Leben kann ich es leider nicht ausleben. Wenn ich ehrlich bin, ist es mir schlichtweg zu anstrengend oder zu anstrengend geworden. Ich ziehe Sportgruppen für Behinderte oder Behindertenkaffees mittlerweile vor, dort fühle ich mich wohler. Das mag nicht richtig sein. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich finde Inklusion toll und richtig; wenn sie funktioniert. Ich würde mir wünschen, dass nicht behinderte und behinderte Kindern zusammen spielen und lernen. Vielleicht funktioniert das besser, wenn Evan älter ist und die Gruppen ohne Eltern stattfinden.

Ich merke, dass Mitmenschen auf Personen mit gut sichtbarer Behinderung anders reagieren als bei Menschen, bei denen man es nicht sofort erkennt. Ich kann nachvollziehen, dass es am Anfang irritierend und schwierig nachzuempfinden ist aber ich kann und möchte mich nicht ständig rechtfertigen. Wenn ich an der Kasse stehe und ich mit einer Hand Evan festhalten
muss mit der anderen Hand die Einkäufe in den Wagen werfe und mit der nicht vorhanden Hand noch bezahlen muss, würde ich mich über Hilfe freuen! Eltern mit gesunden Kindern kennen diese Situation bestimmt auch sehr gut. Und jetzt schließen Sie für einen kurzen Moment die Augen und stellen Sie sich einmal vor es wäre noch 100 mal schlimmer.

Abschließend möchte ich erwähnen, dass wir trotzdem noch gerne einkaufen, ins Schwimmbad oder ins Kaffee gehen. Evan und ich lieben das Leben, denn das Leben ist scFeatured imagehön!

Freundlichkeit ist eine Sprache, die Taube hören und Blinde sehen! (Mark Twain)

Ein gemütlicher Restaurantbesuch – oder so ähnlich!

Ich habe diesen Artikel, nach einem Restaurantbesuch bei Toshibo in Bremen geschrieben und ihn an verschiedene Zeitungen geschickt. Ich hatte meinen Sohn bei diesem Besuch nicht dabei, was im Endeffekt eine sehr gute Entscheidung war. Aber liest bitte selber!

Alleinerziehend… – das bin ich! Ein schwerbehindertes Kind …- das habe ich noch dazu. Wenn man alleinerziehend ist, trifft man automatisch viele alleinerziehende Frauen oder Männer. Wenn man Glück hat verbindet einen dann nicht nur der Status und man freundet sich an. Wie das dann so ist, möchte man auch gerne hin und wieder etwas zusammen unternehmen. Wenn man nicht das Glück hat seine Eltern oder andere Verwandte in der Nähe zu haben, muss man – oder möchte man vielleicht auch – seine Kinder mitnehmen. Man kann ins Café, in einen Park, ins Kino oder einfach in ein Restaurant gehen. Letzteres habe ich letzte Woche Freitag mit 2 alleinerziehenden Freundinnen und Ihren Kindern gemacht. Wir waren also insgesamt zu 7 und ich habe uns einen Tisch im Toshibo im Schnoor für 18 bis 20 Uhr reserviert. Ich habe mir im Vorhinein überlegt, dass wir in diesem Zeitraum am Wenigsten auffallen bzw. andere Gäste ohne Kinder stören – so eine Denkweise nimmt man nach ungefähr 2 Jahren alleinerziehend mit einem behinderten Kind in Deutschland an. Wir kommen also in diesem schönen , sehr, ich meine sehr kleinen, Sushi Restaurant an und machen es uns gemütlich während wir noch auf unsere Freundin mit Ihren 2 Kindern, 4 und 6 Jahre alt, warten. Bis jetzt ist noch alles gut… Eine Viertelstunde später betritt dann auch unsere Freundin mit Ihren 2 kleinen Kindern das Restaurant. Da ich mittlerweile sehr sensibel geworden bin, fällt mir gleich auf, dass die Dame hinter dem Sushi Tresen etwas irritiert ist. Wir sitzen mittlerweile alle am Tisch und die Kinder probieren Ihre Essstäbchen und die dazugehörigen „Untersetzer“ aus sowie die noch leeren Gläser. Das war der 1. Anlass der energischen Dame hinter dem Sushi Tresen hervor zu hechten und den Kindern die Gläser aus den Händen zu nehmen sowie die Essstäbchenuntersetzer und sie wieder richtig zu platzieren. Okay, habe ich mir gedacht, ich werde das mal weiter beobachten aber wir waren ja heute schließlich hier, um das Essen zu genießen und uns mal nicht zu stressen… Nachdem wir alle bestellt haben, kamen die Getränke. Es wurde dann von Seiten der Bedienung ein wenig Holunderblütensaft auf meine Freundin gegossen aber das ist ja nicht weiter schlimm… Als dann die Getränke der Kinder kamen, haben sie sich gleich darüber hergemacht. Sie wollten leider kein Eis in ihrer Schorle haben und haben daraufhin versucht, das Eis aus der Apfelsaftschorle zu bekommen. Das war ein weiterer Anlass für die Dame von Ihrer Sushi Theke hervor zukommen und den Kindern die Schorlen aus der Hand zu nehmen und erst einmal Ihre Hände mit einem Handtuch zu säubern. Da das Restaurant wirklich sehr klein ist, hat man keine andere Möglichkeit, als fast direkt an der Theke zu sitzen und somit genau unter Beobachtung zu stehen. Das haben die Kinder und wir Mütter mittlerweile auch gespürt… Aber wir versuchten unserer Lebensdevise „Jetzt bloß nicht stressen, wir schaffen das – (das wird schon alles wieder)“ treu zu bleiben… Nachdem die Kinder ungefähr 20 Minuten einigermaßen ruhig – unter strenger Beobachtung – auf Ihren Stühlen saßen, nicht zu vergessen 4 und 6 Jahre alt, kam zum Glück unser Essen. Für die Kinder Spaghetti und für uns Erwachsenen Sushi. Die Hälfte der Spaghetti wurden auf Anhieb gegessen. Zum Glück gibt es im Schnoor keine Autos und die Kinder konnten draußen vor dem Restaurant ein wenig umherlaufen und die Gegend erkunden. Einige Entdeckungen wollten sie uns gleich detailliert schildern und sind dann einige Male hin und hergelaufen. Wir baten sie dies nicht zu tun und haben die Tür, falls sie vergessen wurde zu schließen, sofort geschlossen und die Kinder, wenn nötig, erneut ermahnt. Ein Fenster war geöffnet, was die Kinder veranlasst hat, dort durchzuschauen, um uns zu unterhalten. Das war der energischen Dame dann wieder zu viel und sie hat das Fenster voller Elan und mit lautstarker Beschwerde geschlossen. Nachdem die Kinder das Restaurant danach wieder betreten haben, war es der Dame, die sich mittlerweile als Besitzerin des Ladens entpuppt hatte, endgültig zu viel und hat sich direkt an uns gewandt. Dieses hat sie allerdings nicht diskret und höflich sondern sehr laut und sehr verärgert gemacht. Meine Freundin durfte sich dann anhören, dass sie die schlecht erzogensten Kinder hat und sie als Mutter komplett versagt hat. Ihrer Meinung nach müssen Kinder 2 Stunden still auf dem Stuhl sitzen können, ansonsten würde man etwas bei der Erziehung falsch machen. Wir haben dann nach der Rechnung verlangt. Leider hat die Tochter meiner Freundin sich noch erlaubt aus der Tür zu schauen, die aus Glas bestand. Das war jetzt eindeutig zu viel, da die energische Dame nun nicht nur den Boden nochmal wischen muss sondern zudem auch noch die kompletten Fenster putzen muss, so sagte sie es zu uns in einem äußerst hässlichen Ton. Weiter haben wir dann zu hören bekommen, dass wir besser bei McDonald oder bei der Sushi Factory untergebracht wären und nicht in ihr Klientel passen. Mit diesen Worten wurden wir dann sehr direkt aus dem Laden komplementiert. Nachdem wir natürlich die Rechnung über 150.- Euro bezahlt hatten, ohne Trinkgeld versteht sich.

Es mag natürlich ein blöder Zufall sein, dass wir nun alle alleinerziehende Mütter waren und ich möchte damit auch kein Mitleid hervorrufen oder mich sonst irgendwie über unsere Lebenssituation beschweren. In erster Linie sind wir glückliche Frauen, alle mit einem anderen Hintergrund und mit einer anderen Geschichte, die ihr Leben alleine meistern bzw. meistern müssen und dieses auch gut tun. Allerdings haben wir nicht oft die Gelegenheit zusammen auszugehen und haben uns dementsprechend auf diesen Abend gefreut. Dieses Mal wollten wir nicht, wie so oft zu MC Donald oder zu Ikea gehen. Wir hatten einfach Lust auf Sushi! Ich kann verstehen, dass sich einige Menschen durch Kinder gestört fühlen, da sie in Ruhe essen wollen und /oder selber keine Kinder haben. Ich finde es auch in Ordnung, wenn man sich in angemessener Lautstärke und im richtigen Ton beschwert oder auf etwas hinweist aber so etwas wie in diesem Lokal habe ich noch nie erlebt. Wir haben uns wirklich wie Menschen 2. Klasse gefühlt und meiner Freundin, die im Alltag schon genügend Sorgen hat, ging es nach diesem Vorfall sehr schlecht. Ich würde mir sehr wünschen, dass dieser Artikel einige Leute zum Nachdenken anregt… Im Endeffekt bin ich sehr froh, dass ich meinen Sohn, der einen sehr schweren Herzfehler hat und dazu noch Autist ist, nicht mit in dieses Restaurant genommen habe – der kann nämlich nicht mal 1 Minute still sitzen…

Ich weinte, dass ich keine Schuhe hatte, bis ich einen sah, der keine Füße hatte. (Helen Adams Keller, 1880-1968, US-amerikanische Sozialreformerin und Schriftstellerin, blind und taub)