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Wenn das Leben für einen Moment stehen bleibt

Im Dezember 2010 ist mein Leben für einen Moment stehen geblieben und als es wieder zum Laufen gekommen ist war alles anders. Von Jetzt auf Gleich.

Ich kann mich noch sehr detailliert daran erinnern. Voller Vorfreude, Ende 6. Schwangerschaftsmonat, bin ich zur Untersuchung gegangen. Danach wollte ich Weihnachtsgeschenke einkaufen. Das in diesem Jahr Weihnachten für mich ausfallen würde und nichts mehr so sein würde wie es mal war, wusste ich bis dahin noch nicht. Ich war noch in meiner alten Welt, in der alles in Ordnung war.

Spätestens als der Arzt seine Kollegin geholt hat und beide sehr besorgt aussahen, habe ich gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Am Anfang dachte ich noch ganz naiv und optimistisch, dass es vielleicht nur ein 6. Finger sein wird oder das rechte Ohr vielleicht etwas zu groß ist. „Sie sollten darüber nachdenken, ihr Kind abzutreiben, da es nicht überlebensfähig sein wird“.  Zuerst habe ich gedacht, dass ich ihn nicht richtig verstanden habe, da wir uns auf Französisch unterhalten haben (ich habe zu der Zeit noch in Brüssel gelebt).  Aber ich habe ihn richtig verstanden. In diesem Moment ist mein Leben stehen geblieben. Mein Kind sollte nicht gesund sein? Ich habe nie nur den kleinsten Zweifel gehabt, dass mein Kind nicht gesund sein könnte. Alle bekommen gesunde Kinder. Du rauchst nicht, Du trinkst nicht und Du bist gesund und ernährst Dich auch so, das waren meine ersten Gedanken. Dein Kind kann einfach nicht schwer krank sein. Mittlerweile denke ich, dass das anmaßend war. Wie dankbar man doch sein kann, wenn man ein gesundes Kind bekommt.

Abtreibung. Mit diesem Rat habe ich die Arztpraxis verlassen und bin nach Hause gegangen. In meine Wohnung, in der das Kinderzimmer schon komplett eingerichtet war.  Der Arzt hat mir nur Bruchstücke mit auf dem Weg gegeben: Linke Herzhälfte, einige Fehlbildungen am Herzen, zu große rechte Herzkammer. Mit diesen Informationen habe ich mich an den Computer gesetzt und selbst im Internet recherchiert. Ich bin dann schnell auf HLHS gest0ßen. Nach einer Woche (7 Tage, 168 Stunden, 10080 Minuten) hatte ich dann endlich einen Termin bei einem Spezialisten und mein Verdacht wurde bestätigt. Hypoplastisches Linksherzsyndrom, kurz HLHS. Schlimmste Form, 5 % Überlebenschance. Mit dieser Diagnose und dem Rat zur Abtreibung habe ich das Krankenhaus verlassen.

Abtreibung. Das kam für mich nie in Frage. Ich habe nicht mal einen Moment daran gedacht. Es war für mich einfach unvorstellbar. Mit der endgültigen Diagnose habe ich mich dann wieder an den Computer gesetzt und nach Kliniken gesucht. Schnell bin ich auf Kiel gestoßen und habe mir dort einen Termin geben lassen. In Kiel wurde mir zum ersten Mal wieder Hoffnung und Mut gemacht. Die Diagnose wurde zwar bestätigt aber sie sei operierbar. Da ich in Brüssel gelebt habe und dort versichert war, musste ich einige organisatorische Dinge regeln, um die Behandlung in einem anderen Land, in Deutschland, zu erhalten. Als ich den Brief mit der Zusage der Behandlung erhalten habe, ist mir ein riesen Stein vom Herzen gefallen. Diese Dinge zu organisieren, das hat mir am Anfang sehr viel geholfen. Ich war ein wenig abgelenkt und musste funktionieren. Ich wusste, dass es kein einfacher Weg werden wird und einige Operationen auf uns zukommen aber Hoffnung besteht. Hoffnung. Das Wort habe ich in dieser Zeit zu schätzen gelernt.

Hoffnung hatte ich als ich die erste Ausstattung (Kleidung) und die erste Spieluhr für Evan gekauft habe, dass er sie anziehen und ihr zuhören kann und wird. Jeden Morgen bin ich mit der Hoffnung aufgestanden und abends wieder mit ihr ins Bett gegangen.

Wenn ich gefragt wurde: Junge oder Mädchen? Ach ist ja auch egal, Hauptsache gesund! Habe ich am Anfang sofort geweint. Irgendwann habe ich einfach nur noch genickt und mir meinen Teil gedacht. Schwanger zu sein und nicht zu wissen, ob man sein Kind je lebendig in den Armen halten kann, ist einfach unbeschreiblich. Man hat so viele Wünsche und Hoffnungen für sein Kind. Ich habe jeden Tag aufs Neue gehofft, gefleht und gebetet, dass Evan leben soll. Die Angst war neben der Hoffnung mein ständiger Begleiter.

Aber ich habe in der Zeit noch etwas gelernt: Demut. Demut vor dem Leben. Ich habe gelernt, dass es nicht selbstverständlich ist ein gesundes Kind zu bekommen und ich habe gelernt, dass nicht alle Eltern – so wie ich vorher angenommen habe – gesunde Kinder bekommen. Ich habe in der Zeit als Evan im Krankenhaus war lange im Ronald McDonald Haus Kiel gelebt und dort viele Eltern kennengelernt, die das gleiche Schicksal teilten wie ich. Das Ronald McDonald Haus wurde ein zu Hause auf Zeit und die Gespräche mit anderen Eltern haben mir Mut gemacht. Mut zu kämpfen.

Wenn ich die Zeit zurück drehen könnte, würde ich alles nochmal genauso machen. Jeden Tag, wenn ich Evan anschaue und die Freude und seinen Lebensmut in seinen Augen sehe weiß ich, dass es sich gelohnt hat zu kämpfen. Evan macht seinen Namen alle Ehre: Kleiner tapferer Krieger.  

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben
(Hermann Hesse, Stufen).

Reittherapie!

Evan erhält jetzt 1x die Woche Reittherapie. Als wir das 1. Mal beim Stall angekommen sind und Evan das Pony gesehen hat, konnte ich ihn gar nicht mehr zurück halten! Er hat sofort „Hü“ gerufen und wollte direkt aufsitzen. Er saß fast 30 Minuten ganz ruhig auf dem Pferd und konnte selber das Gleichgewicht halten.

Ich werde später mehr darüber berichten!

Auf nach Brüssel!

Manchmal packt mich mein Enthusiasmus und ich reiße voller Elan das Ruder an mich. Egal ob es vorher schon etliche Male schiefgegangen ist und ich mir ganz überzeugend sage: Das mach  ich nie wieder! Irgendwann probiere ich es doch wieder aus. Ganz nach dem Motto: Geht nicht, gibt’s nicht! Obwohl eine Sache mache ich wirklich nicht mehr – erstmal zumindest- und das sind Restaurantbesuche.

Brüssel – dort habe ich fast 7 Jahre gelebt. Aus dem einem Jahr, das ich ursprünglich bleiben wollte, sind 6 Weitere geworden. Brüssel ist eine tolle Stadt und hat mich sofort in ihren Bann gezogen. Aber es war nicht nur die Stadt sondern auch die Menschen, die ich dort kennengelernt habe. Wundervolle Menschen, die zu wundervollen Freunden geworden sind. Diese tolle Stadt und Menschen wollte ich Evan nicht länger vorenthalten. Die Freunde hat Evan zum Glück schon vorher kennengelernt aber nie in Brüssel.

Bis ich mich entschlossen habe, Evan mitzunehmen, habe ich allerdings eine Weile gebraucht. „Du wirst nichts davon haben“, “ Das wird purer Stress“, „Fahr lieber alleine“ gut gemeinte Ratschläge, die mich allerdings nicht davon abhielten. Geht nicht,  gibt’s nicht! Evan und ich fahren nach Brüssel!

Lieber in eine Ferienwohnung oder doch zu Freunden? Meine liebe Freundin hat sich nicht davon abbringen lassen – trotz meiner sehr ehrlichen Äußerungen & Vorahnungen –  dass wir bei ihr übernachten sollen: „Das wird schon nicht so schlimm“ sagte sie ganz zuversichtlich. Ich habe nur im Stillen gedacht: „Wir werden sehen“.

An einem Freitag ging es dann endlich Richtung Brüssel. Das Auto bis zum Anschlag bepackt. Evan saß das erste Mal vorne neben mir. So kann ich ihn besser unter Kontrolle halten – habe ich gedacht. Nach ungefähr 15 Minuten wurde ich eines Besseren belehrt. Evan hat schnell gemerkt wie viel „Macht“ der Beifahrersitz doch ausübt und hat diese auch direkt an sich gerissen. Mein toller Kaffeehalter war schon kaputt, als wir den Hof verlassen haben.

Gefühlt mussten wir alle 10 Minuten Pausen machen. Als wir durch Holland gefahren sind, mussten wir ebenfalls einen Stopp machen. Evan und ich sind dann zusammen in ein nettes Autobahnlokal gegangen. Ich fand es erstaunlich wie positiv die Leute in Holland auf uns reagiert haben. Evan war direkt voll in seinem Element und hat die ganze Autobahnraststätte in Beschlag genommen. Ein riesengroßes Pappschild, das aussah wie eine Riesen-Gitarre musste zuerst dran glauben. Gleich bekommen wir richtig Ärger, ich habe mich innerlich schon darauf eingestellt. Aber anstatt uns zurecht zuweisen, lachten die Angestellten nur und sagten mir immer wieder auf holländisch wie süß Evan doch sei. Vielleicht kann ich hier einziehen?! Das waren meine ersten Gedanken. Diese Idee habe ich allerdings schnell wieder zerschlagen und die Reise ging weiter.

Nach 7 Stunden Fahrzeit sind wir dann endlich angekommen. Als allererstes habe ich das Wohnzimmer und unser Gästezimmer „evangerecht“umgestaltet. Das Haus besitzt mehrere Etagen und viele Treppen. Evan liebt Treppen. Besonders liebt er Gegenstände auf die Treppen zu werfen, vor allem runter zu werfen. Immer und immer wieder. Damit hat er auch sofort begonnen.

Eigentlich war ich die meiste Zeit – direkt nach dem Aufstehen bis zum „Ins Bett gehen“ – damit beschäftigt, Evan davon abzuhalten Gegenstände die IMG-20150328-WA0019Treppe runter zu werfen oder die Wohnung zu demolieren. Zudem war noch ein kleines Baby mit im Haus. Am Anfang lag er noch in seinem Laufstall. Nach ein paar Stunden hat meine Freundin ihn allerdings nur noch umher getragen.

Ich habe nicht nur einmal gedacht, dass meine Freunde uns gleich hinaus komplementieren. Ich habe meine Sachen schon vor dem Haus stehen sehen. Aber das ist nicht eingetreten. Wir sind Freitag angekommen und Montag – wie geplant – wieder abgereist.

Ich muss zugeben, dass es ein sehr anstrengendes Wochenende für mich und bestimmt auch für unsere Freunde war. Trotz der Anstrengung war es aber auch ein sehr schönes und erlebnisreiches Wochenende. Ich habe Evan meine ehemalige Wohnung gezeigt und das Quartier wo ich so lange gelebt habe. Ich bilde mir ein, dass es ihm gefallen hat, da er sehr interessiert aus dem Fenster geschaut hat.

Auch wenn dieses Wochenende mir sehr viel Kraft und Geduld abverlangt hat, bin ich unheimlich stolz, dass Evan und ich es so gut gemeistert haben. Manchmal brauche ich das Gefühl mit Evan „frei“ zu sein und auf reisen gehen zu können. Ich habe nach meinem Abitur mehr im Ausland gelebt als in Deutschland und wollte dieses Glück  & diese Erlebnisse andere Länder zu bereisen und Kulturen kennen zulernen mit Evan teilen. Ganz so wie ich es mir vorgestellt habe, funktioniert es leider nicht. Aber ein bisschen italienisches Flair nach Holland zu holen klappt! 

Eine Freundin von mir, die ebenfalls ein autistisches Kind hat,  erzählte mir vor längerer Zeit, dass sich fast alle Freunde von ihr und ihrer Familie abgewandt haben. Ich habe nach dem Wochenende in Brüssel länger nichts von meiner Freundin und ihrem Mann gehört und habe mir – wenn ich ehrlich bin – Gedanken gemacht, ob unsere Freundschaft zu ihr und ihrem Mann unter unserem Besuch gelitten hat. Aber das hat sie nicht! Wir sind immer wieder willkommen – Evan und ich und dafür bin ich unendlich dankbar.

Ich habe wundervolle Freunde, in Brüssel, in Bremen, mittlerweile sind sie auf der ganzen Welt verstreut. Ich weiß,  dass das nicht selbstverständlich ist. Wenn Evan etwas kaputt gemacht hat, helfen sie mir es wieder sauber zu machen. Wenn Evan weg rennt, sagen sie „Bleib sitzen, ich laufe hinterher“.

Auf der ganzen Welt gibt es keinen größeren Reichtum, keine größere Freude und kein kostbareres Geschenk als die Freundschaft. 

Angst

Manchmal kommt sie ganz unverhofft. Von einem auf dem anderen Moment. Manchmal nachts in Form eines Hustens oder doch am Tag. Hat er blaue Lippen? Sind seine Fingernägel heute ein bisschen blauer? Sieht er kaputter aus? Seit 4,5 Jahren bin ich eine ganz genaue Beobachterin. Mir entgeht nichts. Nicht das kleinste Husten oder der noch so kleine Fingernagel, der heute ein bisschen blauer aussieht. Beobachten, das kann ich mittlerweile sehr gut.

Früher bin ich nie ohne meine Sab Simplex Spritzen – bis zum Anschlag gefüllt –  und etlichen Milchflaschen aus dem Haus gegangen. Ich war gewappnet. Ich hatte einen regelrechten Verschleiß an Sab Simplex und Milchpulver. Im Krankenhaus wurden die Kinder immer schnell mit dem sehr süßen SapSimplex zur Ruhe gebracht, diese Tatsache habe ich mir schnell zu Nutzen gemacht und etliche Flaschen in der Apotheke bestellt.

Nach Evans erster Herzoperation wurde er mit einem Shunt und einem Herzmonitor kurzzeitig entlassen. Der Monitor war am Anfang immer an, damit ich seine Sättigung und Herzfrequenz überwachen konnte. Nach etlichen Fehlarlamen und aufgrund dessen etlichen „Herzinfarkte“meinerseits, habe ich den Monitor nur noch nachts angeschlossen und tagsüber, wenn Evan geschlafen hat und manchmal auch zwischendurch, aber nur manchmal. (Eigentlich war der Monitor trotzdem immer dabei.) Damit er im Zweifelsfall doch „mal eben kurz“ angeschlossen werden konnte – falls Evans Fingernägel oder seine Lippen etwas blauer aussahen. Die Zeit zwischen den ersten 2 Operationen war sehr nervenaufreibend. Einerseits war ich sehr glücklich, dass ich Evan zu Hause hatte und ein wenig Normalität leben durfte aber andererseits war da dieser ständige Begleiter: die Angst.

Evan durfte sich nach der 1. Operation nicht übermäßig aufregen und schreien. Dieses kann man einem kleinen Säugling allerdings nicht erklären, daher habe ich Evan die ersten Monate eigentlich nur tragend und tanzend, also tragend tanzend durch die Wohnung befördert. Gefühlt habe ich ihn morgens schon tanzend aus dem Bett gehoben und ihn den ganzen Tag bei Laune gehalten. Wenn wir spazieren gehen wollten, habe ich Evan, geschuckelt versteht sich,  in den geschuckelten – ich hatte zum Glück immer passende Unterstützung bzw. Personal –  Kinderwagen geschuckelt gelegt. Mittlerweile kann ich über diese Situation lachen. Früher hatte ich einfach nur Angst. Angst, dass Evan sich für einen kurzen Moment zu sehr aufregen könnte und der Alarm losgeht.

Heutzutage vergesse ich den Herzfehler manchmal, da Evans Autismus unseren Alltag sehr gut im Griff hat. Allerdings gibt es diese Momente, in denen die Angst sehr schnell zurück kommt. Wenn Evan nur einmal hustet, stehe  ich – nachts oder tagsüber- sofort mit einem Hustensaft neben ihm; nachdem ich ihn mit Wik Vaporup eingecremt habe und Babix -ätherische Öle – in seinem Zimmer verstreut habe; mittlerweile bekommt sogar seine Kleidung einige Tropfen ab. Spätestens dann darf Evan auch nur noch Salbei Honig Tee trinken. Das Gleiche spielt sich ebenfalls bei einem kleinen Schnupfen und Niesen ab. Dann kann ich die Angst ganz klar spüren. Dann sitzt sie direkt neben mir und lächelt mich an, ja sie will mir sogar die Hand geben.

Früher habe ich einige Heilpraktiker aufgesucht, um Globoli für Evan zu bekommen. Für noch mehr Abwehrkräfte. Eine Heilpraktikerin war sehr ehrlich zu mir und hat mir empfohlen selber Beruhigungsgloboli zu nehmen. Leider haben die nicht geholfen.

Der Herzfehler hat in den ersten Lebensjahren von Evan mein Leben und Handeln bestimmt. Ich konnte die Anfangszeit mit Evan nicht genießen, da ich nur angst hatte. Morgens war sie da bevor ich aufgestanden bin und abends bevor ich ins Bett gegangen bin. Die Angst hat mich bestimmt. Wenn andere Mütter zum Babyschwimmen oder zur  Babymassagen gefahren sind, habe ich mir Sorgen gemacht und bin schuckelnd und tanzend durchs Haus gelaufen.

Als Evan ungefähr 14 Monate war und er schon laufen konnte, wollte ich ihm neue Schuhe kaufen. Wir sind also zusammen in ein sehr überfülltes Schuhgeschäft gegangen. Evan ist nur weggelaufen, total verschwitzt – dank seines Schneeanzuges – und wollte partout keine Schuhe anprobieren. Und dann ist es passiert, ich habe angefangen zu weinen. Ich konnte mich gar nicht mehr beruhigen und auf einmal standen nicht nur 2 Schuhverkäuferinnen um mich herum. Die armen Damen haben gedacht ich weine, da ich schon so lange gewartet habe. Ich habe von jetzt auf gleich angst bekommen. Ihm ist warm, er schwitzt, sein Herz arbeitet zu sehr, er regt sich auf, er wird blau… Dieses Hamsterrad hat sich oft und ganz automatisch in Gang gesetzt.

Evan wurde operiert und er lebt zur Zeit sehr gut mit seinem halben Herzen.  Aber Evan ist nicht gesund.  Der Herzfehler ist nicht heilbar. Operiert heißt nicht geheilt. Oft kann ich diese Tatsache verdrängen aber manchmal kommt sie von einem auf den anderen Moment und trifft mich direkt. Ich habe früher sehr viel nach dem Herzfehler gegoogelt und immer und immer wieder nach Prognosen geschaut. Jede Information in mich eingesaugt und immer mehr gesucht. Wenn mir die Antworten nicht gefallen haben, musste ich sofort zehn gute Informationen finden. Vorher habe ich den Computer nicht mehr ausgeschaltet. Heute mache ich das nicht mehr. Wenn ich Artikel zu dem Herzfehler finde, überlege ich mir sehr genau, ob ich sie lese oder nicht. Oft meide ich auch „Hilfsgruppen“ oder Treffen mit anderen Herzkinder und Eltern. Ich habe gelernt genau zu selektieren und schauen was mir gerade gut tut. Auf unserer Reise habe ich auch schon Eltern kennengelernt, die ihr Kind verloren haben. Das sind dann immer sehr schwere Momente für mich. Zum Einen, da man sehr großes Mitgefühl empfindet und zum Anderen, da es mich selbst betrifft.

Mittlerweile habe ich gelernt der Angst die Hand zugeben. Ja, ich kann ihr sogar in die Augen schauen. An manchen Tagen ein wenig länger und an manchen Tagen ein bisschen weniger. Aber das ist in Ordnung. Ich habe gelernt, dass die Angst zu unserem Leben dazu gehört. Wenn ich sie zu sehr verdränge, wird sie immer größer und scheint unüberwindbar zu sein. Aber genau so gehört die Hoffnung in unser Leben und die lade ich jeden Tag aufs Neue zu uns nach Hause ein!

Seit der Geburt von Evan ist mein Leben wertvoller geworden und dafür bin ich unendlich dankbar.

2015-10-21 22.12.24Mut und Liebe haben eines gemeinsam: Beide werden von der Hoffnung genährt.

Manchmal möchte ich nach Italien…

Manchmal wünsche ich mir in Italien zu sein. In Italien ist es warm und die Leute sind freundlich. Aber ich bin ich Holland. Ich habe mir Holland nicht ausgesucht. Eigentlich wollte ich nach Italien. Ich war auf Italien eingestellt und meine Sachen waren schon gepackt – Wer sich jetzt fragt, warum Italien oder Holland, bitte auf diesen Link klicken. 

Es sind manchmal kleine Momente, in denen mir bewusst wird, dass ich in Holland bin und lieber nach Italien möchte.  Zur Zeit ist in Bremen Freimarkt. Dort würde ich mit Evan gerne hingehen. Aber das funktioniert leider nicht. Was bei unsere letzten Freimarktbesuch passiert ist, behalte ich an dieser Stelle lieber für mich. So viel kann ich sagen, unser Besuch war sehr schnell zu Ende, nach genau 10 Minuten. Bald kommt die Zeit für Laterne laufen. Das habe ich mit Evan noch nie gemacht. Nikolauslaufen oder Kekse für die Weihnachtszeit backen, habe ich mit Evan noch nicht gemacht. Abends ein Buch vorlesen oder einfach mal einen Walt Disney Film zusammen schauen, das haben wir noch nicht gemacht. Und werden wir so schnell auch nicht machen können, vielleicht auch nie.

Diese Sachen hätte ich in Italien machen können. Ganz normale Sachen. Wenn andere Eltern mir beiläufig erzählen was sie mit ihren gesunden Kindern gemacht haben, merke ich wie das Gefühl von Eifersucht, Wut aber auch die Traurigkeit und Verzweiflung in mir aufkommt. Wenn Eltern mit gesunden Kindern mich fragen, ob ich mit ihnen zum Eisessen kommen möchte oder ob wir gemeinsam den Weihnachtsmarkt besuchen wollen, sage ich ganz nett: Nein, danke. Vielleicht beim nächsten Mal. Was ich wirklich denke: Vielleicht in einem anderem Leben!

Ständig zu organisieren und permanent parat zu stehen, hinterlässt seine Spuren. Wenn dazu noch ein paar schlaflose Nächte folgen, dann kann ich zu einem richtigen Ungeheuer werden. Manchmal brülle ich nachts lauter als Evan und muss kurz den Raum verlassen, damit ich wieder in einer normalen Lautstärke kommunizieren kann. Man jongliert die ständigen Therapietermiene, Arztbesuche und Kingergartengespräche. Wenn dann noch eine meiner Damen, die mich so toll unterstützen absagen – die ja durchaus auch noch ein eigenes Leben haben, was ich manchmal gerne vergesse – dann ist das Chaos komplett und ich bin wieder in meinem Organisationsdschungel. In solchen Momenten könnte ich laut rufen: Italien, ich will jetzt – sofort – nach Italien!

Irgendwann habe ich mir die Frage gestellt, warum fahre ich nicht einfach nach Italien, nur ganz kurz? Aus diesem Gedanken wurde – über einen längeren Zeitraum – eine Handlung. Das war ein Prozess, der mir einiges an Gefühlen -von denen ich vorher gar nichts wußte – abverlangt hat.

Mittlerweile fahre ich nach Italien. Entweder mit meinem ziemlichen besten Freund, den Kindern meiner Freundin oder manchmal auch einfach alleine. Ich erlaube mir den Wunsch nach Italien zu haben und ich erlaube mir auch die Dinge zu bedauern und zu betrauern, die ich in Holland – mit einem behinderten Kind – nicht machen kann. Ich habe gelernt, dass es in Ordnung – ja, sogar sehr wichtig ist – den Wunsch nach Italien äußern zu dürfen. Früher habe ich mich schuldig gefühlt aber mittlerweile weiß ich, dass das Eine nicht ohne das Andere geht.

Wissen Sie was passiert, wenn man lange in einem Land ist? Man fängt an sein Heimatland zu vermissen, Holland. Wenn ich für einige Zeit oder besser gesagt, einige Momente in Italien erlebt habe, freue ich mich wieder auf Holland. Ich fange an das Besondere, Wundervolle und Einzigartige an Holland wieder zu erkennen. Ich freue mich auf das kältere Klima oder die schönen Blumen und Windräder.

Ich gehöre zu Holland, genau das Gefühl verspüre ich dann. Holland mag kälter und etwas düsterer sein als Italien. Aber Evan und all die anderen besonderen Menschen, die ich in Holland schon kennenlernen durfte, sorgen für den fehlenden Sonnenschein. Und was passiert, wenn jemand Sonnenschein in ein Leben bringt? Man kann nicht verhindern selbst angestrahlt zu werden!

Leben mit einem halben Herz

„Ihr Kind hat nur ein halbes Herz“ – eine nicht vorstellbare Diagnose, die die Welt stillstehen lässt. Eine Diagnose, die Angst, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und Trauer auslöst. Damals und auch immer (mal) wieder in der Zukunft.

Evan ist mit dem hypoplastischen Linksherzsyndrom (HLHS) zur Welt gekommen, der schwersten Form eines angeborenen Herzfehlers. In drei Operationen musste der lebensbedrohliche Schaden behoben werden. Normal entwickelt war nur seine rechte Herzkammer, die linke war viel zu klein und funktionsuntüchtig. Bei der ersten und risikoreichsten Operation war Evan genau 5 Tage alt. Die 2. Operation hat er mit 4 Monaten erhalten und der letze Eingriff wurde mit 2.5 Jahren vollzogen. Die letzte Operation, die sogenannte Fontan-Operation hat zum Ziel, den bisherigen gemeinsamen Kreislauf zu trennen, und dadurch die Sauerstoffunterversorgung zu beheben und die hohe Druckbelastung der Herzkammer zu reduzieren. Das gesamte venöse Blut fließt dabei der Lunge zu und Körperkreislauf sowie Lungenkreislauf sind völlig voneinander getrennt. Das sauerstoffarme „verbrauchte“ Blut wird nicht vom Herzen (wie bei einem gesunden Herzen üblich) in die Lunge gepumpt. Es fließt durch die obere und untere Hohlvene in die Lunge. Aufgrund dieser Belastungssituation kann es vorkommen, dass Evan ein bisschen blau um die Lippen aussieht und hin und wieder auch blaue Finger- und Fußnägel hat.

Die Diagnose verändert alles. Von heute auf morgen. Ich würde lügen, wenn ich schreiben würde, das war/ist alles halb so schlimm oder wie einige Leute immer wieder gerne sagen, „Das wird schon“ oder „Jetzt ist er aber doch wieder gesund“. Nein, Evan ist nicht gesund. Er lebt mit einem halben Herzen. Operiert heißt nicht geheilt. HLHS ist der schwerste angeborene Herzfehler. Für diese Diagnose gibt es in Deutschland keine Behandlungspflicht, sie erlaubt immer noch eine legale Abtreibung.

Mittlerweile gibt es ein Leben und eine Zukunft mit fehlender Herzkammer und Evan zeigt mir jeden Tag aufs Neue was für ein tolles und lebenswertes Leben das ist. Ich vergesse seinen Herzfehler sogar oft im Alltagsstress – was nicht allzu schwierig ist. Wenn man ihn beobachtet kann man sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass er so einen schweren Herzfehler hat. Evan ist eigentlich immer – außer er schläft – in Aktion. Im Grunde schläft er sich sogar aktiv in den Schlaf. Oft hat Evan rote Paustbäckchen, die viele Omas im Supermarkt dazu bewegen, zu betonen wie gesund Evan doch sei.

Trotzdem kommt sie oft wieder, die Angst. Wenn Evan nachts hustet, stehe ich schon halb im Bett und renne schnurstracks zu unserem – sehr gut gefüllten – Medikamentenschrank. Sofort wird der Wasserkocher angemacht und ich stelle das dampfende Wasser mit ein paar Tropfen Babix in sein Kinderzimmer. Wik Vaporub und andere Cremes dürfen natürlich auch nicht fehlen. Evans Kinderarzt belächelt diese Methoden liebevoll, da sie seiner Meinung nach gar nicht helfen. Mir gibt es aber ein gutes Gefühl, zumindest bin ich dann aktiv. In den meisten Fällen hat er sich dann sowieso nur verschluckt und sich kurz geräuspert.

Die Verbindung zwischen dem Herzfehler und Evans Autismuserkrankung ist für mich sehr schwierig. Da Evan sich nicht äußern kann, habe ich oft das Gefühl ihn ständig beobachten zu müssen um gegebenenfalls zu reagieren. Vor ein paar Wochen sah Evan sehr gräulich und blau aus, ich habe mich richtig erschrocken und bin in Gedanken schon die schlimmsten Szenarien durchgegangen. Dabei hat er sich nur mit Kreide das Gesicht verziert. Die Kreide habe ich dann sofort in den Müll geschmissen.

Wenn wieder ein Besuch beim Kinderkardiologen ansteht, fängt mein Gedanken Karussell automatisch an sich zu drehen. Während der Untersuchung fordert Evan zum Glück meine ganze Aufmerksamkeit, da ich ihm im Wechsel seinen Lolly, sein Kikaninchen, Gummibären oder seine Gitarre geben soll und dabei noch versuche die DVD von Rofl Zuckowski anzumachen. Zum Glück ist Evans Kinderkardiologin sehr nett und meistens endet die Untersuchung damit, dass wir alles zusammen „Ein Vogel wollte Hochzeit machen“ singen und Evan wild dazu klatscht und tanzt.

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Wenn mich heute jemand fragen würde, ob ich Evan zu genau den gleichen Bedingungen und auch mit dem Wissen welchen Weg wir gehen müssen und welche Reise Evan antreten müsste, bekommen würde, ich würde sofort JA rufen! Ich habe meine Entscheidung nie bereut und würde auch heute keinen anderen Weg gehen, als den vor knapp 4,5 Jahren.

Evan beeinflusst meine ganze Lebenseinstellung und zeigt mir, was wichtig ist und was nicht. Durch Evan habe ich gelernt im Regen zu tanzen und nicht ständig auf die Sonne zu warten.

Dafür danke ich ihm vom Herzen!

Menschen zu finden, die mit uns fühlen und empfinden, ist wohl das schönste Glück auf Erden.
(Carl Spitteler)

Bella Italia – unser Sommerurlaub!

Urlaub oder besser ein bisschen Freiheit vom Alltag, dass ist in vielen Familien das Highlight im Jahr. Das ist mit einem  autistischen Kind nicht anders. Der einzige Unterschied ist allerdings, dass man eigentlich schon im Voraus weiß, dass es kein Erholungsurlaub wird sondern meistens noch anstrengender also sonst. Keine gewohnte Umgebung, nicht die regulären Strukturen und Zeiten, viele fremde Menschen. Warum fährt man dann überhaupt noch in den Urlaub? Ganz einfach: weil man – wenigstens 1x im Jahr – so etwas ähnliches wie Urlaub erleben oder erfahren möchte.

Diesen Sommer ging es nach Italien, an den Gardasee. Meine Mutter, Evan und ich – und ganz viel Gepäck. Nach fast 14 Stunden Autofahrt sind wir endlich angekommen. Evan fährt zum Glück gerne Auto und man kann ihn während der Autofahrt sehr gut beschäftigen. Normalerweise reißt man sich nicht darum, hinter dem Steuer zu sitzen sondern sitzt lieber daneben. Bei uns ist es genau andersrum. Wir losen aus, wer hinten sitzt und Evan im Wechsel seinen DVD Player, sein Tablet oder sonstiges Spielzeug oder Essen reicht.

Den Fehler in ein Hotel zu gehen, habe ich genau 1x gemacht. Seitdem fahre ich lieber auf einen Campingplatz, in ein Mobil Heim wo wir unter uns sind. Als wir in unser neues zu Hause auf Zeit eingezogen sind, passiert es bei mir ganz automatisch. Ich gehe systematisch die Wohnung ab und schaue was „autismusfreundlich“ ist und was man umgehend bzw. sofort ändern muss. Das erste was wir behoben haben war die offene Terrasse. Unser Mobil Heim hatte eine sehr schöne und große Terrasse, die allerdings offen war. Daher baute ich sofort eine Absperrung aus mehreren Stühlen und unserem Rehabuggy, die leider nur sehr kurz vor Evan Bestand hatte.

Für Evan ist es sehr schwer sich selber zu „begrenzen“. Damit meine ich nicht, dass er 20151005_192711eingezäunt werden muss – was vieles vielleicht wirklich einfacher machen würde – aber er kann sich selber schwer „erden“ und ist ständig in Bewegung und sehr unruhig. Daher habe ich auch die Sandweste von Beluga, die 2,5 kg wiegt und ihn in manchen Situationen sehr gut beruhigt. Evan spürt sich dann mehr und kommt dadurch auch automatisch mehr zur Ruhe. Evan mag es gar nicht räumlich eingegrenzt zu werden. Er braucht viel Platz und Freiheit. Einige Leute neigen dazu ihn ständig beobachten und führen zu wollen, das macht es aber noch viel schlimmer. Ich habe mittlerweile einen Weg gefunden ihn unbemerkt zu führen bzw. zu lenken – was hin und wieder funktioniert.

Ab dem Moment, ab dem die Absperrung nicht mehr existierte, konnten meine Mutter und ich im Wechsel eigentlich ständig hinter Evan herlaufen. Da Evan mittlerweile schon fast 20 kg wiegt, ist es nicht so einfach ihn zu bremsen. Er wird oft sehr wütend und reagiert aggressiv. Er kann einfach nicht verstehen warum er gewisse Sachen nicht machen darf oder warum sie gefährlich sind.

Gleich am Anfang hat Evan entdeckt was andere Kinder so dabei hatten: Roller, Rutscheautos, Puppenwagen etc. Nach anfänglichem  Optimismus, dass wir nur streng und überzeugt genug sein müssten, dass Evan sich dass nicht einfach nehmen kann und darf, hat es ungefähr einen Tag gedauert und wir haben unseren ersten Italien Ausflug gemacht: Zu ToysR’Us! Unsere Errungenschaften: ein Rutscheauto, ein Puppenwagen, einen Roller und eine Plastikgitarre. 

Aufstehen, das erste Mal im Schlafanzug hinter Evan her (ungeschminkt & ungekämmt). Im Wechsel fertig machen &  frühstücken. Jeden Morgen habe ich mir mit viel Liebe einen Cappuccino gemacht, leider konnte ich ihn in den ganzen 10 Tagen nicht einmal im Sitzen austrinken.  Nach nur ein paar Tagen – eigentlich war es nur ein Tag – kannten mich und Evan, gefühlt, der komplette untere Campingplatz, da ich mit Evan immer und immer wieder meine Runden drehte. Im Wechsel mit Kinderwagen, Rutscheauto oder Roller. Das war für meine Fremdsprachenkenntnisse allerdings gar nicht so schlecht, da ich im Wechsel auf Französisch, Englisch, Spanisch und Deutsch immer wieder das Gleiche erzählen konnte. Ich war überrascht wie freundlich die Leute bzw. Camper waren, auch wenn Evan ständig durch deren Camping „Vorgarten“, ausgelegt mit grünen Kunstrasen, gefahren ist.

Zum Spielplatz sind wir mit Evan nur ein paar Mal gegangen, da wir nicht schon wieder zu Toys R’US wollten. Mittag essen wieder im Wechsel eingenommen. Da wir nur einige Minuten vom Gardasee platziert waren, konnten wir schnell zwischen dem See und unserem Mobil Heim hin und her wechseln. Wir hatten Glück und haben meistens ein ruhiges Plätzchen am See gefunden. Falls sich dann doch mal eine Familie genähert hat, sind wir gleich umgezogen. Meine Mutter war irgendwann vom vielen Hin- und Herziehen genervt. Als ich es ihr überlassen habe, es dann einfach auszuprobieren, sagte sie überzeugt zu. Als ich dann nach einigen Minuten wieder kam, konnte ich die Beiden erst gar nicht finden, so weit sind sie umgezogen. Manche Probleme lösen sich ganz von alleine.

Am 3. Tag hatte ich die Idee endlich die tolle Pool Landschaft zu besuchen. Sie war einfach riesig. Mit etlichen Rutschen und Wasserspielen. Ein richtiges Paradies. Allerdings nicht für uns. Nach nur wenigen Minuten habe ich gemerkt, dass das eine ganz blöde Idee war. So schnell wie Evan im Wasser war – mit Schwimmweste und Neoprenanzug- konnte ich gar nicht schauen. Nach Evan hüpfte meine Mutter dann ins Wasser und versuchte ihn einzuholen. So schnell wie er im Wasser war, war er allerdings auch schon wieder draußen und hatte einige Spielsachen, Luftmatratzen und Schwimmschuhe in Beschlag genommen. Diese Dinge waren aber auch schnell wieder uninteressant und er stand in der nächsten Sekunde schon auf der Rutsche. Dort bin ich dann ebenfalls rauf geklettert. „Die Rutsche ist nur für Kinder“ habe ich sofort zu hören bekommen. War mir egal, ich bin trotzdem hinterher und habe Schlimmeres verhindern können.

Als meine Mutter gerade dabei war Evan die neu zusammen gesuchten Gegenstände wieder abzunehmen, konnte ich mich für einen kurzen Moment umschauen. Es war so ähnlich als ob man seinen Körper kurz verlässt und neben sich steht. Ich konnte gar nicht glauben was ich gesehen habe. Eltern, die auf ihren Liegen lagen, Bücher oder Zeitschriften gelesen haben und mit einem Auge ihren Kindern beim Spielen beobachtet haben. Manche schienen sich wirklich auszuruhen. Ich war tierisch eifersüchtig und wollte gehen.  Ich glaube wir sind 30 Minuten geblieben. Nach diesen 30 Minuten war ich so kaputt, dass ich mich am Liebsten etwas ausgeruht hätte. Aber Evan wollte jetzt Roller fahren, durch die Campingvorgärten. Ich also wieder hinter her.

Wir haben noch 2 Ausflüge ausprobiert. Ein Ausflug auf dem Fahrrad nach Sirmione. Leider konnten wir schlecht das Fahrrad durch die engen Gassen schieben. Evan habe ich genau einmal aus dem Fahrradsitz gelassen. Als er dann aber auf direkten Wege in die kleine Kapelle gelaufen ist und schon hinter der Absperrung auf dem Altar war, habe ich ihn direkt wieder in den Fahrradsitz gesetzt und wir haben uns durch die engen Gassen gezwängt.

Unser 2. Ausflug war ins Gardaland. Das ist ein Vergnügungspark. Ausgerüstet mit unserem Rehabuggy, DVD Player, Lollis, Puppenwagen und etlichen Spielsachen, habe ich gehofft, dass es vielleicht für ein paar Stunden funktioniert. Wir wurden dann aber schnell eines Besseren belehrt. Es hat nicht funktioniert und wir sind sehr schnell wieder nach Hause gefahren.

Eigentlich hätten wir uns die Ausflüge auch sparen können, aber irgendwie versucht man es trotzdem immer wieder. Das ist wirklich ein Phänomen. Ich habe einige Freundinnen mit autistischen Kindern und sie bestätigen mir das Gleiche. Man versucht es immer und immer wieder. Jedes Mal mit der Hoffnung: Dieses Mal könnte es ja klappen! Meistens tut es das aber nicht.

Ein tolles Erlebnis im Urlaub war, dass Evan nach nur 2 Versuchen das Fahrradfahren – ohne Stützräder – gelernt hat. Es kam ihm zu Gute, dass er keine Angst hat oder kennt. Er ist einfach losgefahren und ich hinterher. Leider konnte er noch nicht bremsen und seine erste Fahrt endete in einem Campingvorgarten. Die Leute sind an dem Tag neu angekommen und kannten uns daher noch nicht. Zum Glück waren es Italiener, die sind besonders kinderfreundlich.

Dafür, dass ich am 3. Tag schon wieder nach Hause wollte, war der Urlaub noIMG-20150919-WA0035ch sehr schön. Für viele Leute wäre es der reine Streßurlaub gewesen und das war es die meiste Zeit auch. Allerdings gibt es diese Momente, wenn Evan abends einfach in den Gardasee läuft und wir ganz spontan im Dunkeln zusammen schwimmen und dabei singen bzw. lautieren oder Evan mit der Holzgitarre (die ich direkt nach dem Kauf wieder mit Superglue kleben konnte) und Hut durch die italienischen Gassen zieht und lautiert.

Ich trinke meinen Cappuccino nicht im Sitzen sondern ich trinke ihn 20150909_093926während ich Evan hinterher laufe. Deshalb schmeckt er nicht weniger gut. Es erfordert nur mehr Kreativität und Flexibilität. So in etwa sehe ich das auch mit unserem Urlaub. Mit viel Kreativität und Flexibilität hatten wir einen schönen Urlaub. Anders als andere Urlaube, anders schön.

… nächstes Jahr werden wir ganz sicher wieder sagen: Dieses Mal klappt es bestimmt! 

Wenn einer aus der Reihe tanzt, ist die Reihe besser zu sehen. Das Außergewöhnliche, Andersartige und Besondere gehört zum Leben unabdingbar und macht es erst lebbar – erst lebendig!

Ziemlich beste Freunde

Zeit ist eines der größten Geschenke was man jemanden machen kann.

Mit diesem Leitspruch wurde ich auf das Projekt von „Ein Zuhause für Kinder“ von der St. Matthäus Gemeinde in Huchting aufmerksam.

Das „Zuhause für Kinder“ ist ein Kinder- und Jugendzentrum im Bremer Stadtteil Huchting. Jedes dritte Kind lebt hier von Sozialhilfe. Direkt gegenüber der Einrichtung beträgt der Anteil der Sozialhilfeempfänger sogar über 50 Prozent. Täglich kommen 60-100 Kinder im Alter zwischen 0-14 Jahren in die Einrichtung, um die umfangreichen, kostenlosen Angebote zu nutzen.

„Mach mit und werde ziemlich bester Freund von einem Kind aus der Arbeit von „Ein Zuhause für Kinder“. Was steckt dahinter? Diese Frage stellte ich mir unmittelbar als ich den Flyer das erste Mal in der Hand hielt. ZBF visitenkarte frontTheoretisch läuft es so ab, dass man Patin oder Pate eines Kindes von ein Zuhause für Kinder wird und sich regelmäßig mit Ihnen trifft. Vieler dieser Kinder wachsen in schwierigen Familienverhältnissen auf und freuen sich, wenn jemand mal ausschließlich Zeit für sie hat. Zuerst verbringt man eine einige Zeit in den Räumlichkeiten von ein Zuhaue für Kinder. Danach kann und darf man sich treffen wo der beste Freund oder die Patin es möchte. Nachdem ich einige Informationen erhalten habe, war mein Interesse geweckt. Eigentlich nicht nur mein Interesse, sondern ich habe sofort gespürt, da möchtest Du mitmachen. Das möchtest Du ehrenamtlich unterstützen.

Die Wochen bevor das Projekt gestartet ist, fingen meine Unsicherheiten und Ängste allerdings an. Übernehme ich mich damit? Schaffe ich das noch neben Evan? Werde ich dem Kind gerecht? Jetzt gab es für mich allerdings kein Zurück mehr. Meine Mitgliedschaft war fest und einen ziemlich besten Freund hatte ich auch schon zugewiesen bekommen.

Ein paar Tage später habe ich meinen besten Freund dann auch persönlich kennengelernt und es hat sofort „gefunkt“. Die Chemie stimmte einfach. Mein bester Freund fing gleich an zu erzählen und hörte eigentlich gar nicht mehr auf. Aus der einen Stunde, die ich anfänglich bleiben wollte,  sind dann fast 2,5 Stunden geworden. So positiv und unbeschwert ist das 2. Treffen auch verlaufen. Die nächsten Treffen, außerhalb der Gemeinde, sind schon verplant. Evan soll meinen bester Freund auch bald kennen lernen. Ich hoffe, dass die beiden sich auf ihre Weise gut verstehen und wir dann hin und wieder etwas gemeinsam machen können. Das würde ich mir für Evan aber auch für meinen besten Freund wünschen. Ich glaube ganz stark daran, dass besondere und gesunde Kinder voneinander profitieren können.

Trotzdem hat mich die Frage: Warum machst Du das eigentlich? nicht losgelassen. Warum gehst Du in Deiner kostbaren Freizeit nicht einfach in die Sauna oder shoppen? Ich habe lange darüber nachgedacht und nach dem 2.Treffen mit meinem neuen besten Freund ist es mir klar geworden. Die Sachen und Dinge, die eigentlich ganz normal für Eltern mit gesunden Kindern sind wie zum Beispiel basteln, malen, Kekse backen, spielen oder einfach nur REDEN mache ich mit meinem besten Freund. Diese Dinge kann ich mit Evan so nicht machen. Als ich die Zeit mit meinem besten Freund verbracht habe, habe ich gemerkt, dass diese Tätigkeiten mir im Alltag sehr fehlen und wie sehr ich es genieße diese Dinge zu machen. Nach den 2 Wochen ist mir aufgefallen, dass ich die Zeit mit Evan wieder ganz anders wert schätze, da ich jetzt einen kleinen Ausgleich habe. Ich habe wieder Lust auf seine „Spiele“ und wir musizieren zusammen, ich auf der Klobürste und Evan auf dem Handfeger.

Ein weiterer Grund für das Mitmachen bei diesem Projekt ist Dankbarkeit. Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich so wertvolle und wunderbare Menschen um mich herum habe, die mich unterstützen und ich möchte einen kleinen Anteil davon wieder zurückgeben. Wenn ich nach einem Treffen mit meinen besten Freund sehe und  spüre, wie viel Freude ihm die Zeit bereitet hat, bin ich dankbar.

Wenn wir uns um das Wohl anderer kümmern, dann tun wir zwei Menschen etwas Gutes: dem Anderen und uns.

Durch dieses Projekt habe ich aber noch etwas gelernt: Ehrfurcht. Ich habe tolle ehrenamtlich Paten und Patinnen kennengelernt, die jeder auf ihre Weise einfach wunderbar sind. Eine Patin hat mich aber ganz besonders berührt. Jeannette. Sie hat MS (Multiple Sklerose) und sitzt mittlerweile im Rollstuhl und ist fast erblindet. Alleine um zu den Treffen mit ihren besten Freund zu kommen, benötigt sie viel Kraft und Organisation und das finde ich bewundernswert. Menschen, die selber ein so schweres Schicksal haben und trotzdem so viel geben.

Jeder im Leben hat sein Päckchen zu tragen. Manchmal wird dieses Päckchen leichter, wenn man es auf viele verschiedene Schultern verteilen kann.

Ich bin sehr gespannt wo die Reise mit meinem besten Freund hingeht.

Mit gutem Beispiel voranzugehen ist nicht nur der beste Weg, andere zu beeinflussen- es ist der Einzige!“ Albert Einstein