Es gibt Tage, an denen fühlt man sich gut. Richtig gut. Man läuft euphorisch durch die Gegend und belächelt das Leben. Würde man an jenem Tag in einer Umkleidekabine stehen, wäre das Licht in der Kabine mild und vorteilhaft. Geradezu schmeichelnd. Man würde sich im Spiegel betrachten und denken: Wow, sehe ich heute gut aus. Unverschämt gut! Beim Friseur würde man trotz etlicher Strähnen Silberpapier im Haar und dem Fensterplatz inklusive Sonnenlicht und Halogenlampen wunderschön aussehen. Andere Frauen mit Silberpapier im Haar würden kurze, rasche, eifersüchtige Blicke in unsere Richtung werfen und denken: Sieht die aber gut aus. Unverschämt gut! Das sind die guten Tage. Aber was wäre weiß ohne schwarz? Hell ohne dunkel? Genau, eintönig. Daher gibt es noch die anderen Tage. Tage, an denen die Sonne permanent zu hell strahlt. Man trotz bedeckten Himmels noch eine Sonnenbrille tragen möchte. Tage, an denen man sich erschreckt, wenn man sich in der Umkleidekabine oder beim Friseur im Spiegel (eigentlich egal in welchem Spiegel) betrachtet. Das Licht nicht schmeichelnd und einladend wirkt sondern belastend und drückend. Wie Fensterscheiben, bei denen man erst dank der Sonnenstrahlen bemerkt, wie dreckig sie eigentlich sind. Tage, an denen man die Wohnung nicht verlassen möchte und ein Telefonat oder Termin schon zu viel erscheint. Die „To Do Liste“ mahnend auf dem Tisch liegt und nach Aufmerksamkeit schreit. Wie ein hungriges Baby. Termine wie nervige Eintagsfliegen um einen herum fliegen und einen nicht in Ruhe lassen aber die Kraft für die Fliegenklatsche fehlt. Ein Wechselbad der Gefühle. So ähnlich ergeht es mir auf unserem Weg. Evan und meinem ganz persönlichen kleinen Pfad. Manchmal ist er geradezu einladend flach und eben. Gut einsehbar. Ohne Kurven oder gefährlichen Abstiegen. Einfach immer nur geradeaus. An diesen Tagen kann ich es gar nicht abwarten endlich loszugehen. Loszulaufen. Wie ein Tier im Stall, das mit dem Hufen scharrt und es nicht abwarten kann, endlich auf die Weide zu kommen. An diesen Tagen kann ich beim Laufen sogar die Augen schließen und die Sonne auf meinem Gesicht spüren. Immer geradeaus ohne Kurven. Evan trottet neben mir her. Wie ein kleines Fohlen neben seiner Mutter Stute. Ganz relaxt. Mal läuft er ein wenig vor und im nächsten Moment ist er wieder hinter mir. Aber immer in Reichweite. Alles ist einsehbar. Keine Gefahr zu erkennen.
An manchen Tagen werden wir auf unserem Weg begleitet. Weggefährten gehen neben uns her. Ein großer neben mir und ein kleiner neben Evan. Wir unterhalten uns. An manchen Abschnitten, an wunderschönen – einsamen – Plätzen, machen wir eine Pause und trinken einen Latte Macciato oder einen Dosensekt – alkoholfrei versteht sich. Genießen das schöne Wetter und unterhalten uns. Pausenlos. Danach stehen wir wieder auf und gehen weiter. An diesen Tagen bin ich unendlich glücklich. Dankbar. Unendlich dankbar. An diesen Tagen möchte ich mit keinem Menschen auf der Welt tauschen. Keinen anderen Weg gehen. Keinem anderen Pfad folgen. Ich nehme Evan an die Hand und wir laufen los. Nach ein paar Metern ist der unser Weg auf einmal nicht mehr gerade und gut einsehbar. Er ist kurvig, steil, gefährlich und steigt zunehmend an. Evan mag nicht mehr laufen und ich muss ihn tragen. An etlichen Stellen ist es kein gemütliches Laufen oder Spazierengehen mehr, es ist Arbeit. Harte Arbeit. Kosten enorm viel Kraft. So wie ein Bergaufstieg. Allerdings ohne Sicherheitsgeschirr. Die Weggefährten? Einige haben uns mit Beginn des Bergaufsteigens verlassen. Haben Sie schon mal probiert sich beim Bergsteigen (mit ungefähr 20 kg Gepäck) gemütlich zu unterhalten? Das funktioniert nicht. Zumindest nach einigen Metern verlässt einen die anfängliche Euphorie und man schweigt. Wir sind wieder alleine. Alleine? Nee, das sind wir nicht. Wir sind doch schließlich zu zweit! Umso höher der Berg erklommen wird, umso höher steigt das Adrenalin. An einigen Stellen mag Evan weder laufen noch getragen werden – meistens sucht der kleine Michel sich dafür die gefährlichsten Stellen aus. Für einige Touristen mag unser Anblick befremdlich aussehen. Vielleicht sogar komisch. Schaut mal! Die Mutter trägt ihren Sohn mit etlichen Gitarren, Klobürsten, Gummibärchen und Kikaninchen. Selbstgemachtes Leid. Der Junge kann doch schließlich laufen! Der verdient eine ordentliche Portion Prügel. Dann pariert er auch. Schnell überholen! Und weg sind sie. Erst von der Distanz erkenne ich, dass es sich um Freunde handelt. Weggefährten. Ehemalige Weggefährten. Und Tschüss! In Trance habe ich sogar schon Familienmitglieder an uns vorbei huschen sehen. Die sind so schnell vorbei gezogen, dass ich sie im ersten Moment gar nicht erkannt habe. Ach, die haben uns bestimmt nicht gesehen, Evan. Oder doch? So traurig es ist, ich kann einigen von Ihnen keinen Vorwurf machen. Evan und ich laufen langsam. Kehren oft um. Gehen rückwärts. Machen etliche Pausen. Laufen Umwege. Dann wieder ein Stückchen rückwärts. Ein bisschen geradeaus. In unserem Tempo. Vielen ist das zu umständlich. Zu kompliziert. Zu unbequem. Tragen ihre eigene Last und möchten – können – einfach nicht warten. Wollen nicht immer nur Rücksicht nehmen. Nach etlichen Kilometern den Berg hinauf möchten wir eine Pause machen. Ein Rasthof, kleiner Michel. Wie einladend. Schnell muss ich feststellen, dass dieser Rasthof nicht für uns geeignet ist. Evan einfangen und wir marschieren weiter. Suchen uns unseren eigenen Rasthof.
Während wir auf der Suche sind, Evan und sein grünes Gummibärchen haben es sich mittlerweile auf meinen Schultern gemütlich gemacht (summen beide fröhlich und zuversichtlich Old Mc Donald had a Farm), schweifen meine Gedanken ab. Ich denke darüber nach, wie es sein wird, wenn ich Evan nicht mehr auf meinen Schultern tragen kann. Er zu groß ist und ich zu schwach bin. Ich seine kleine wundervolle Welt nicht mehr aufrecht erhalten kann. Mein undurchdringliches Mutterschild langsam zu bröckeln beginnt – oder irgendwann gar nicht mehr da ist. In einer Welt zu bestehen, in der der Wert eines Menschen und sein Stellenwert in der Gesellschaft nach seiner wirtschaftlichen Leistung bewertet wird. Ich frage mich, welchen Platz wird mein kleiner Michel in so einer Welt haben? Evan wird unruhig und mein Gedankenkarussell wird unterbrochen. Danke, mein Schatz. Evan ist es mittlerweile zu langweilig auf meinen Schultern geworden. Er möchte Abenteuer erleben und läuft schon wieder vor. Sein Gummibärchen fest unter den Arm und los geht’s. Er hat den Weg verlassen und erfindet – entdeckt – seinen eigenen Pfad. Und Mama? Die sortiert sich kurz und läuft hinterher. Während ich Evan und seinem Gummibärchen hinterher laufe, sehe ich die anderen Leute auf ihrem Weg.
An manchen Tagen wünsche ich mir, einen anderen Weg nehmen zu können. Evan einfach seine Jacke und seine Schuhe anziehen zu können und den Weg zu nehmen, den viele Menschen ganz selbstverständlich jeden Tag einschlagen. Den direkten Weg zum Ziel. Ohne Umwege und etlichen nicht geplanten Zwischenstopps. Ganz ohne Bedenken an Rasthöfen inne halten zu können. Kurz die Zeit genießen und dann ohne viele Ablenkungen weiter des Weges ziehen. Ganz einfach. Nicht alle Steine, die uns auf dem Weg begegnen in kleine liebevolle Abenteuer umwandeln zu müssen. Den direkten Weg zum Ziel, wie schön einfach wäre das. Alles andere zu behaupten wäre an manchen Tagen gelogen. Wenn man ein schwer chronisch krankes oder schwer behindertes Kind hat, gerät die Welt ins Wanken und man bekommt einen anderen Blickwinkel. Ist der direkte Weg wirklich das Ziel? Oder ist das Ziel nicht der Weg? In der heutigen Zeit hat man immer den direkten Weg vor Augen. Man ist gestresst und verliert oft das Wesentliche aus den Augen. Mir passiert das sehr häufig. Ich hetze von Termin zu Termin ohne mich wirklich umzuschauen. Dann passiert es, dass genau in diesen Moment mein kleiner Michel einen anderen Weg einschlägt. Einen Umweg. Einfach kurz inne hält und sich umschaut. Evan? Hier ist doch nichts! Und ob, da ist so viel was man im Stress des Alltages übersieht. Die kleinen Dinge, die man gerne übersieht und die doch so groß sind. In solchen Momente denke ich immer, dass dieser kleine Junge mir und vielen anderen so viel voraus hat. Auf unseren vielen Umwegen haben wir besondere Menschen und Familien kennengelernt, die auch nicht den direkten Weg gehen (oder gehen können). Die oft rückwärts laufen. Viele – nicht geplante – Stopps einlegen müssen. Diese besonderen Menschen, die ich nicht mehr missen möchte, hätten wir nicht kennengelernt, wenn wir immer den direkten Weg gegangen wären. Diese und viele andere Menschen geben mir die Hoffnung, Evan, dass sie anstatt mir Dir zu reden andere Wege finden, um mit Dir zu kommunizieren und anstatt Dich zu isolieren, Abenteuer für Dich erschaffen, anstatt Dich zu bemitleiden, Dich respektieren und Dich achten und sich auf das konzentrieren was Du kannst (aus Huygen Hilling).
Mein lieber Michel aus Lönneberga, egal wie steinig, steil, nebelig, dreckig, sandig, verschmutzt und holprig unser Weg auch sein wird, ich werde immer diesen Weg gehen. Egal ob ich klettern, auf den Boden rutschen oder kriechen muss. Mal werden wir neben einander gehen, mal wirst Du ein wenig vorrennen oder wirst ein bisschen zurück bleiben. Aber wir werden ihn immer gemeinsam gehen. Unser Weg. Wohin der Weg auch führt.
Egal welchen Weg Sie gehen oder welches Ziel Sie vor Augen haben, wir wünschen Ihnen eine gute Reise. Auf Ihrem ganz persönlichen Weg. Evan & Marcella