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3. Artikel für Philip Julius e.V.

Evan sieht man seine Behinderung nicht an. Und das ist auch gut so. Oder? Das Thema der „Klassenbehinderung“ geht mir persönlich sehr nahe, da wir täglich betroffen sind. Was sind Eure Erfahrungen?

Die Klassengesellschaft der Behinderung ist das Thema, mit dem sich Marcella Becker in der aktuellen Ausgabe von „Anders und doch normal“ beschäftigt…. und ein Plädoyer hält für eine Gesellschaft ohne Schubladen… Bitte hier klicken, um den Artikel zu lesen. 

Ich habe weder ein Muttertags-Frühstück noch Blumen bekommen. Aber wisst ihr was? Das ist gar nicht schlimm. Auch wenn mein kleiner Michel nicht „Alles Liebe zum Muttertag“ sagen kann, weiß ich, dass er mich lieb hat. Ich feiere mein „Muttersein“ jeden Tag (klappt an manchen Tagen besser und an anderen etwas weniger). Ein Hoch auf alle Michels, Pippis und Karlssons dieser Welt.

Hauptsache gesund.

Blond oder dunkel? Junge oder Mädchen? Egal, Hauptsache gesund. Genau, Hauptsache gesund! Feindiagnostik, Fruchtwasseruntersuchungen, Bluttests – die Möglichkeiten ein gesundes Kind zu bekommen steigen. Hauptsache gesund. Eine Floskel. Eine Feststellung. Eine Selbstverständlichkeit. Wir leben in einem Optimierungszeitalter und einer Leistungsgesellschaft. Heutzutage ist das Streben nach dem Glück und nach dem Optimum allgegenwärtig. Wir optimieren unser Aussehen, unsere Beziehungen. Besuchen Seminare, um unser Leben zu optimieren. Es gibt etliche Anleitungen und Ratgeber für ein erfolgreiches, glückliches und unbeschwertes Leben (einige von Ihnen habe ich sogar zu Hause – allerdings noch ungelesen, vielleicht sollte ich das mal ändern).

Wusstest Du denn nicht vorher, dass Dein Sohn krank ist? Doch, das wusste ich. Hauptsache gesund? Hauptsache lebendig, war unsere Devise. Für mich gab es nie eine andere Alternative als mich bewusst für Evan zu entscheiden. Es wäre gelogen zu behaupten, dass ich mir vor 5 Jahren kein gesundes Kind gewünscht hätte. Damals hatte ich nicht den geringsten Zweifel, dass mein Kind nicht gesund sein könnte. Hauptsache gesund, das wird einem von klein auf mitgegeben, also warum sollte ich kein gesundes Kind bekommen? Hauptsache gesund. Woher kommt das? Natürlich wünscht sich jede Mutter und jeder Vater, dass es dem eigenen Kind gut geht und es keine körperlichen Schmerzen erleiden muss. Das waren auch meine Gedanken. Ich habe mir weniger Gedanken um Evans körperliche und geistige Einschränkungen gemacht als um die „Qualen“ der vielen Operationen und Behandlungen, die er in seinen ersten Lebenswochen über sich ergehen lassen musste. Aus Hauptsache gesund wurde in ein paar Minuten Hauptsache lebendig.

Körperliche Behinderung. Geistige Behinderung – für viele Menschen scheint es einen großen Unterschied bezüglich der Lebensqualität der Behinderungen zu geben. Ich habe es damals als sehr grenzwertig empfunden –  als müsse ich mich weniger auf mein Kind freuen, da das Statement „Hauptsache gesund“ in unserem Falle nicht mehr zutraf. Doch ich war (von Sorgen besorgt) überglücklich. Egal ob mit Behinderung oder ohne. Für mich war es eine Selbstverständlichkeit, mich auf mein „krankes Kind“ zu freuen. Mein geliebtes Kind was mir damals schon krank die Welt bedeutet hat. Eltern die kranke oder behinderte Kinder haben, freuen sich genauso an und über ihre Kinder. Ich bin weder ein Gutmensch noch möchte ich einen moralischen Zeigefinger hochhalten. Es ist keine selbstverständliche moralische Pflicht, ein voraussichtlich stark behindertes Kind zur Welt zu bringen und ich würde mir nie anmaßen darüber zu urteilen. Ich bin mir sehr sicher, dass es sich betroffene Eltern mit ihrer Entscheidung für oder gegen eine Fortsetzung der Schwangerschaft alles andere als leicht machen und jede Einzelentscheidung mit guten Gründen getroffen wird und ihre Berechtigung hat.

Allerdings ist es mir ist es eine Herzangelegenheit, dass die Behinderung eines Menschen nicht zum Maßstab für seinen Wert und seine Lebensqualität gemacht wird. Ist er denn überhaupt glücklich? Hat er ein lebenswertes Leben? Diese und ähnliche Fragen habe ich oft in der Vergangenheit gehört und ich werde immer mal wieder mit ihnen konfrontiert. Bedeutet eine Behinderung gleich, dass das Leben weniger fröhlich oder sogar weniger lebenswert ist? Ich habe den Eindruck, dass nur ein gesundes Leben für viele Menschen ein wirklich lebenswertes Leben ist. Schon vor der Geburt projiziert man oftmals seine eigene Wünsche und Erwartungen auf das Kind (ich zumindest habe das gemacht). Mit 6 Jahren spielt er bestimmt Fußball und sie geht zum Ballettunterricht. Mit 18 Jahren macht er und/oder sie Abitur. Danach wird studiert. Vorher vielleicht noch eine Weltreise gemacht. Erwartungen. Falls diese oder ähnliche durch eine Krankheit oder Behinderung nicht eintreffen, wird oft das lebenswerte Leben angezweifelt. Es beruht auf menschlicher Selbstüberschätzung, einige Leben als nicht lebenswert zu kennzeichnen. Dabei kann niemand vorhersagen, wie lebenswert ein Leben sein wird und niemand sollte sich anmaßen, darüber zu urteilen, wie lebenswert das Leben eines anderen Menschen sein wird, war oder ist. Ich persönlich habe im Laufe der Zeit festgestellt, dass meine Ungewissheit und Angst vor der (einer) Behinderung schlimmer, als das reale Leben mit einer Behinderung, ist. Zudem hat Gesundheit wenig mit Genetik zu tun. Auch Menschen mit einer Behinderung können gesund, krank, glücklich oder unglücklich sein – so wie alle Menschen. Krankheiten und Behinderungen gehören zu unserem Leben auf dieser Erde dazu. Ich muss damit rechnen, dass mein Kind früher oder später krank werden kann.

Warum haben wir eine solch große Angst vor einem behinderten Kind? „Hauptsache gesund“ ist ein so großer Teil unserer Gesellschaft geworden. Meiner Meinung nach ist der Gedanke der Inklusion noch nicht angekommen. Menschen mit und ohne Behinderung wissen nach wie vor zu wenig übereinander, es gibt einfach zu wenig Berührungspunkte. Ich bin mir sicher, dass der Wille zur inklusiven Gesellschaft da ist, es aber noch massiv an der Umsetzung und an der „richten Einstellung“ fehlt. Die Normen und Werte unserer heutigen Gesellschaft sind fast ausschließlich von nichtbehinderten Menschen geprägt und daher passiert es sehr schnell, dass wir uns über lebenswerte und nicht lebenswerte Leben die Köpfe zerbrechen. Nehmen wir einfach mal an, dass unsere Kultur (Werte und Normen) eine andere wäre und wir überzeugt wären, dass wir mit einem Kind mit Trisomie 21, genauso gut zurecht kommen würden, wie mit einem Kind, dass eine Brille benötigt. Für einige vielleicht ein seltsamer Vergleich aber mir gefällt diese Vorstellung und die Einstellung dahinter sehr. Das „Problem“ ist nicht die Behinderung sondern oftmals unsere Kultur.

Autismus kann man nicht (noch nicht) durch eine pränatale Diagnostik feststellen. Wenn dies in den ersten Wochen einer Schwangerschaft möglich wäre, wie hoch wären die Abtreibungszahlen? Eine Frage, die ich mir in letzter Zeit immer mal wieder stelle.

Ich habe in den letzten Jahren etwas sehr wichtiges und essentielles gelernt: Demut. Demut vor dem Leben. Was habe ich noch gelernt? Dass das Wort Demut das Wort Mut beinhaltet. Mut für das Leben. Manchmal wird aus Hauptsache gesund, Hauptsache lebendig. Aber für mich das Wichtigste: Hauptsache geliebt. 

 

 

Erzähl doch mal… Marcella.

Unser „Erzähl doch mal…“ Interview ist online. Vielen Dank lieber Philip Julius e.V.!philip-julius-logo-400

Abtreibung. Mit diesem Rat hat Marcella (33) vor fast 6 Jahren die Praxis ihres Arztes und später auch das Krankenhaus in Brüssel, ihrem damaligen Arbeits- und Wohnort, verlassen. Ihrem Sohn Evan wurde aufgrund eines schweren Herzfehlers eine gerade einmal 5%-ige Überlebenschance eingeräumt. Marcella entschied sich gegen die Abtreibung. Nach Evans Geburt hat sie ihr Leben komplett neu geordnet. Heute leben die beiden – sehr glücklich – in einem kleinen Ort nahe Bremen, doch die Diagnosen HLHS und Frühkindlicher Autismus bestimmen nach wie vor ihren Alltag.

Die Rubrik „Erzähl doch mal…!“ erscheint monatlich auf unserer Homepage und stellt jeweils eine Familie mit einem besonderen Kind vor. Hier werden individuelle Geschichten erzählt und Wünsche und Ziele geteilt, die alle in erster Linie eines tun sollen, nämlich Mut machen. Zum Weiterlesen bitte hier klicken. 

Seid wer immer ihr sein wollt.

Das schafft ihr nicht. Das ist zu viel zu schwer. Was? Das willst Du wirklich machen?! Das klappt sowieso nicht. Total idiotisch. Bescheuert. Viel zu kompliziert. Warum tust Du Dir das an? Du hast doch gar keine Zeit. Wie oft im Leben hört man diese oder ähnliche Aussagen von Mitmenschen? Wie oft spricht diese kleine innere Stimme zu uns, gerade deutlich genug, um sie zu hören: Die Anderen haben Recht. Das ist viel zu schwer! Lass es ein. Das klappt sowieso nicht. Sei nicht blöd. Mach Dich nicht lächerlich. Das macht man nicht. Das gehört sich nicht. Ich zumindest kann diese kleine innere Stimme in vielen Situationen hören. Deutlich hören. Gerade in Bezug auf oder mit Evan. Es passiert blitzschnell, eine Sekunde nicht aufgepasst und schon steckt oder sitzt man in einer Schublade. Bei Menschen mit einer Behinderung dauert es sogar nur 0,5 Sekunden. Entweder wird Evan überschätzt oder unterschätzt. Sein wirklicher Ist-Zustand wird dabei häufig – fast immer – nicht berücksichtigt. Was? Ihr Junge ist 5 und kann nicht sprechen! Er ist behindert. Oh, okay! Kutschiguuu Blääää. Und schon wird geswitcht – in die Babysprache. Entweder das Eine oder das Andere. Überdurchschnittlich intelligent oder dumm. Wann haben wir verlernt einen Menschen, egal ob mit oder ohne Behinderung, so anzunehmen wie er ist und was er ist? Ihn weder zu verurteilen noch zu bemitleiden? Ich kann mich nicht davon freisprechen. Auch wenn sich mein Blick im Laufe der Zeit verändert hat, passiert es mir immer noch, dass ich einem behinderten Menschen zu schnell zu wenig zutraue. Sehr oft, eigentlich immer, werde ich eines Besseren belehrt.

Mit 3 sollte ein Kind dieses können, mit 4 muss er/sie in der Lage sein jenes zu können und mit 18 macht er/sie dann Abitur. Danach? Wird studiert! Ganz klar. Alternativ? Vielleicht eine vernünftige und sichere Ausbildung abschließen. Und wenn er/sie andere Pläne hat? Kommt nicht in Frage. Ich weiß was gut für mein Kind ist! Aber wissen wir das wirklich immer am besten? Jedes Elternpaar wünscht sich das Beste für sein Kind. Davon bin ich überzeugt. Aber sind die eigenen Wünsche immer die Besten? Geht es nicht vielmehr darum sein Kind zu unterstützen, die eigenen Träume zu realisieren. (Wenn das ein Studium oder eine sichere Ausbildung ist umso besser.) Keine Angst Frau B., ihr Sohn kann auch mit dem Herzfehler Abitur machen. Wie bitte? Abitur? Scheiß auf Abitur. Hauptsache mein Kind lebt – waren meine Gedanken. Heutzutage leben wir mehr und mehr in einer Welt, in der der Wert eines Menschen und sein Stellenwert in der Gesellschaft meistens nach seiner wirtschaftlichen Leistung bewertet wird. 5 Jahre nach dem Gespräch mit dem Kinderkardiologen frage ich mich, welchen Platz wird mein kleiner Michel in so einer Welt haben? In den Vergleichsgesprächen “Was kann mein Kind“ wären wir definitiv ziemlich weit hinten. Aber wissen Sie was? Das ist mir egal. Total egal. Evan muss nichts mit dem Erreichen eines bestimmten Alters können. So Evan, jetzt bist Du 5 und genau jetzt musst Du Deinen Namen buchstabieren können. Vorwärts und rückwärts. Dabei solltest Du, wenn möglich, auf einen Bein hüpfen und gleichzeitig Deinen Kopf streicheln. Könnte er, würde Evan mir genau in diesem Moment den Vogel zeigen (mit 5 Jahren). Zu Recht. Selbstverständlich wünsche ich mir von Herzen, dass mein kleiner Michel in der Lage sein wird, ein selbstständiges Leben zu führen. Ob und wie er sein Leben führen wird bestimmt allerdings Evan. Ich kann ihn im Rahmen meiner Möglichkeiten unterstützen aber das Tempo liegt bei ihm. Ganz nebenbei, das Abitur wirkt neben einem chronisch kranken Kind äußerst lächerlich. Fast schon wie eine Witzfigur. (Schade, dass ich das nicht schon während meiner Abi-Prüfungen wusste).

Das schafft ihr nicht. Das macht man nicht. Das gehört sich nicht. Ich bin dabei diese Wörter aus unserem Vokabular – nein, aus unserer Welt – zu streichen. Wenn wir Lust haben, dann laufen wir im Sommer mit offenen Schuhen und verschiedenen Socken herum oder vielleicht auch ganz ohne Schuhe und nur in bunten Socken. Wenn wir Lust haben, spielen wir “Old Mc Donald had a Farm“ an der Kasse in unserem Supermarkt, begleitet von unserer Gitarren-Klobürste und Bratpfanne. Wenn wir Lust haben, kombinieren wir einen Pünktchen-Pullover, eine viele zu kurze Hose und eine Streifenstrumpfhose. Wenn wir Lust haben, mieten wir uns einen Bulli und fahren damit quer durch Europa und machen Urlaub. Wenn wir Lust haben, nehmen wir um 17 Uhr noch eine Stunde Autofahrt zu unserem Lieblingsplatz in Kauf, nur um für 10 Minuten den Sonnenuntergang zu beobachten. Wenn wir Lust haben, laufen wir einen Halb-Marathon zusammen – ich laufe und Evan sitzt in seinem umgebauten Hilfs-Sportbuggy, inklusive Kikaninchen, dem grünen Gummibär, Bert und seiner Gitarren-Klobürste.

Evan und ich lassen uns nicht von Grenzen beschränken, die uns andere – fremde – Menschen auferlegen wollen. Wir sind wer wir sein wollen. An einem Tag vielleicht ein bisschen mehr Pippi Langstrumpf und am anderen Tagen ein bisschen mehr Michel aus Lönneberga. Aber immer wir selbst. Lasst Euch nicht unterkriegen. Habt Mut. Seid wild und frech und wunderbar. Lasst Euch nicht in Schubladen stecken, in die ihr nicht wollt. Nehmt keine Rollen an, für die ihr nicht vorgesprochen habt. Niemand sollte aufgrund (s)einer Behinderung ausgegrenzt werden oder entmutigt werden, bestimmte Dinge in seinem Leben zu erreichen. Dabei geht es nicht immer um die gefährlichsten oder waghalsigsten Erlebnisse. Manchmal sind es “Kleinigkeiten”, die wir uns im Alltag nicht zutrauen oder vor denen wir Angst haben. Ich glaube ganz fest daran, dass wir alles schaffen können was wir wollen und wir die sein können, die wir sein wollen. Ich möchte, dass Evan mit dem Gefühl und einer Selbstverständlichkeit groß wird, dass er alles schaffen und erreichen kann was er will. Ein Orchester, eine Philharmonie, bestehend aus Klobürsten, Bratpfannen, Fliegenklatschen und Handfegern. Warum nicht? Das es Mültonnenmusik gibt hätte früher auch niemand geglaubt.

Natürlich gibt es Grenzen, die auch wir nicht überwinden können – zumindest bis jetzt. Das macht mich oft traurig und wütend. Aber das ist okay. Es gibt Alternativen. Anstatt mit dem Flugzeug in fremde Länder zu fliegen, reisen wir mit dem Bulli durch Deutschland. Mit genügend Mut und Enthusiasmus (und viel positiver Energie) erreichen wir hoffentlich Spanien. Wenn nicht, dann bleiben wir halt an der Nordseeküste. Ich glaub an uns. Seid wer immer ihr sein wollt. 

Wo alle Grenzen sich durchschneiden, alle Widersprüche sich berühren, da ist der Punkt wo das Leben entspringt. (Friedrich Hebbel).

Ein neues Abenteuer.

Wir machen uns die Welt wie sie uns gefällt – zumindest versuchen wir das. Auch ein Waldweg, den wir mittlerweile schon fast seit 3 Jahren gehen, überrascht uns immer wieder mit neuen Abenteuern. Heute war es der Berg. Und unsere Mountainbikes. Beides zusammen? Ein Abenteuer! Hip Hip Hurra. Schlaft schön!

 

Philip Julius e.V. – Mein 2. Artikel.

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Hip Hip Hurra. Ein Pferd ist hinzugekommen. Das heißt ein zweiter Artikel ist online und ich freue mich sehr darüber. In meinem zweiten Artikel widme ich mich einer besonders wichtigen Frage: Wie gelingt es, als Mutter (oder auch Vater) eines behinderten Kindes, die eigenen Bedürfnisse nicht aus den Augen zu verlieren? Wie schafft man es, sich persönliche Freiräume zu schaffen, (fast) ganz ohne Schuldgefühle? 

Einfach hier klicken, dann kommt ihr zu dem Artikel und der wundervollen Philip-Julius e.V. Homepage. philip-julius-logo-400

 

Die eine Mutter.

Wow, was für eine starke Mutter. Die Mutter muss stark sein. Sie hat doch ein behindertes Kind. Sie ist eine Kämpferin. Eine Löwenmutter. Eine Judo Kämpferin. Immer stark, nie erschöpft. Steigt in den Ring. Kämpft jeden Kamp zu Ende. Und das Beste? Sie sieht dabei noch nichtig gut aus. Eine tolle Frau. Eine richtig gute Mutter. Ein wertvolles Mitglied unserer Gesellschaft.

Aber wissen Sie was? Ich bin die Mutter, die manchmal zu müde zum Kochen ist und zu MC Donald fährt. Die Mutter, die ihrem Kind den 2. Lutscher kurz vor dem Abendbrot gibt, damit es nicht mehr schreit. Die Mutter, die es manchmal körperlich nicht mehr schafft, ihr Kind, in den Kindersitz zuschnallen. Die eine Mutter, die an manchen Tagen noch eine „I am a Gummy Bear“ Playlist auf YouTube anmacht, damit sie ihren Latte Macciato (in Ruhe) trinken kann. Die Mutter, die ihren Freunden sagt, dass sie schnell mal wohin müsste, nur damit sie hinter der nächsten Ecke kurze 2 Minuten durchatmen kann. Die Mutter, die auf dem Spielplatz ihr Handy herausholt und mit anderen Freunden über Whats App kommuniziert. Die Mutter, die sich am Morgen die Decke über den Kopf zieht, weil sie noch nicht aufstehen mag. Die Mutter, die zu Hause manchmal bewusst wegschaut, wenn ihr Kind etwas kaputt macht, da ihr die Kraft fehlt schon wieder aufzustehen und konsequent zu sein. Die Mutter, die ihren Sohn manchmal morgens im Pyjama in den Kindergarten schickt, weil sie es an manchen Tagen einfach nicht schafft ihn anzuziehen. Ich bin die Mutter, die sich manchen Tagen die Ohren zuhält, weil sie das Geschrei nicht mehr ertragen kann. Die Mutter, der an vielen Abenden die Kraft für ein Gute Nacht Lied fehlt. Die Mutter, die ihrem Kind morgens schon mal einen Keks gibt. Die Mutter, die sich an manchen Sonntagen wünscht, doch bei Bauer sucht Frau mitgemacht zu haben, um einmal sagen zu können: Schatz, kümmer Du Dich bitte kurz. Ich liege noch im Bett und ruhe mich ein wenig aus. Mit einer Zeitschrift und einem Latte Macciato. Die Mutter, die nach der „Heute war Evan sehr schwierig. Was ist mit Ihnen los, Frau B.?“ Frage  des Therapeuten ausflippt. Die Mutter, sich nicht mehr zügeln kann und die Dame von der Krankenkasse am Telefon anschreit. Dann auflegt und weint. Die Mutter, die ihr Kind und den Busfahrer manchmal 5 Minuten vor der Haustür warten lässt. Die Mutter, die sich an manchen Tagen freut, den Tag auf der Arbeit zu verbringen, als zu Hause zu bleiben. Die eine Mutter, die sich ab und zu wünscht, etwas mehr normal als anders sein, zu müssen. Die Mutter, die manchmal einfach keinen Bock auf Struktur hat und nicht immer Rücksicht nehmen möchte. Ich bin die eine Mutter, die sich hin und wieder freut ihr Kind abzugeben, um eine Nacht durchzutanzen. Ich bin die Mutter, die an manchen Tagen komplett überfordert und vollkommen erschöpft ist, mental und körperlich. Ich bin die Mutter, die an manchen Tagen gerne etwas mehr Frau wäre.

Aber ich bin auch die Mutter, die sich in der Nacht liebevoll und geduldig von 2 bis 5 Uhr morgens um ihr Kind kümmert. Die Mutter, die stundenlang in der Küche steht, um eine Suppe zu kochen, die dann nicht probiert und schon gar nicht gegessen wird. Die Mutter, die nach einer sehr kurzen Nacht aufsteht, ihr Kind und sich selbst auf den Tag vorbereitet, zur Arbeit fährt, nach 5 Stunden wieder nach Hause kommt. Ihr Kind versorgt, den Haushalt irgendwie nebenbei führt, danach zur Therapie fährt, wieder nach Hause kommt Abendbrot vorbereitet und ihren Sohn zu Bett bringt. Die Mutter, die vor dem Spielplatz und dem Handy schon einige Stunden liebevoll das gleiche Spiel mit ihrem Sohn gespielt hat. Die Mutter, die manchmal mit Engelszungen auf ihr Kind einsingt, begleitet mir einer Gitarren-Klobürste, und etliche Minuten versucht Ihr Kind ohne Kraft in den Kindersitz zu setzen. Die Mutter, die an einem Tag schon 100-mal aufgesprungen und liebevoll konsequent ihr Kind zur Vernunft gebracht hat. Die Mutter, die sich seit 3 Jahren um Therapien bemüht, mit Krankenkassen um eine Windel mehr am Tag streitet, sich ausdauernd und diszipliniert mit Ämtern und Behörden auseinandersetzt. Die Mutter, die morgens 30 Minuten geduldig versucht ihr Kind zu überreden den Schlafanzug gegen ein Tagesoutfit zu tauschen. Die Mutter, die seit Jahren immer wieder ruhig und bereitwillig verschiedenen Therapeuten Evans Erkrankungen und Diagnosen erklärt und den Tagesablauf offen legt. Die Mutter, die offen und lernfähig Kritik annimmt und versucht diese umzusetzen. Die eine Mutter, die sich die irrsinnigsten Rätschläge und Tipps der Außenwelt gelassen anhört und in Ruhe versucht sich zu erklären. Die Mutter, die auf dem Weg zur Arbeit schon  Gespräche über Anträge im Auto (mit Headset) führt. Die Mutter, die immer wieder nachfragt und sich erkundigt wie es ihrem Sohn den Tag über ergangen ist. Die Mutter, die ihr Kind immer und immer wieder bis aufs Äußerste verteidigt. Die Mutter, die das Einzigartige und Wundervolle im Anderssein sieht. Die eine Mutter, die jeden Tag diszipliniert zur Arbeit fährt und sich am Nachmittag abhetzt, um ihren Sohn pünktlich vom Bus abzuholen. Die Mutter, die seit Jahren den gleichen einsamen Waldweg mit ihrem Kind geht, weil es ihm Freude bereitet. Die Mutter, die ihr Leben komplett (mit ein paar Pausen) nach ihrem Kind ausrichtet. Die Mutter, die nicht „Schatz, geh Du mal eben kurz“ sagen kann und immer und immer wieder aufspringt und sich kümmert. Eine Mutter, die sich nach 3 Stunden Auszeit riesig auf ihren Michel aus Lönneberga freut und ihn in die Arme schließt, so als wenn sie ihn das erste Mal nach Wochen wiedersehen würde. Die Mutter, die morgens schon voller Elan aufwacht und den ganzen Tag kreativ und gut gelaunt mit ihrem Sohn verbringt. Die Mutter, die sich unermüdlich für die Interessen und Anliegen ihres Sohnes einsetzt.

Jeden Tag wird man  Zeuge/in bestimmter Situationen. Auf den ersten Blick scheint alles ganz klar, ganz eindeutig zu sein. Aber was sieht man wirklich? Meistens den Bruchteil einer Situation. Ein kleines Stück vom Ganzen. Einzeln mögen viele Teile nicht richtig und sogar dreckig erscheinen aber als Ganzes werden Sie oftmals zu einem wunderschönen Bild. Manchmal lohnt es sich einfach ein wenig länger hinzuschauen.

„Dont judge my journey until you have walked my path“

Ich bin die Mutter, die jeden Tag aufs Neue ihr bestes gibt. Könnte ich es besser, würde ich es machen.

 

 

 

 

 

Danke.

Manchmal sind es die kleinen Gesten und Worte, die etwas großes hinterlassen. Es ist so schön, dass wir  Evan kennen.  Dieser Satz von Evans kleiner Freundin hat mich heute sehr zum Strahlen gebracht. Wir haben am Nachmittag Evans „Geburtstags-Wald-Picknick“ mit vielen Freunden gefeiert. Es war ein wunderbarer und einzigartiger Nachmittag, mit strahlendem Sonnenschein und ganz viel guter Laune. Wir sind gesegnet so wunderbare und wertschätzende Freunde und Großeltern zu haben, die auch zu den entlegensten Waldspielplätzen kommen, um mit uns zu feiern oder aus Brüssel anreisen, mit einer wundervollen Smarties Geburtstagstorte. Danke.