Abtauchen. Mal schwimme ich in der einen Welt, mal in der Anderen. Die meiste Zeit allerdings schwimmen wir zusammen in unserer Welt. Hin und wieder tauchen der kleine Bruder und ich auf und atmen etwas von der anderen Luft ein, um dann im nächsten Moment wieder abzutauchen und gemeinsam mit Evan zu schwimmen.
So ähnlich fühlt es sich für mich an. Unser Leben. Der kleine Bruder wird immer älter und möchte immer öfter an die Wasseroberfläche schwimmen. Hin und wieder, für kurze Momente, können wir Evan mitnehmen, aber es wird immer weniger. Der kleine Bruder hat eigene Interessen, die ich nicht mehr mit Evan vereinbaren kann. Und so teilen wir uns auf. Das ist auch in Ordnung. Größtenteils. Ich weiß, dass viele Familien mit gesunden Kindern es auch so machen, da Kinder unterschiedlichen Alters, unterschiedliche Interessen haben. Aber trotzdem bleibt es bei Größtenteils, da ein Gefühl immer zurückbleibt. Das Gefühl, Evan bestimmte Dinge, nicht zeigen zu können. Nicht mit Evan über bestimmte Dinge zu sprechen. Nicht zu erfahren, was Evan denkt. Zu wissen, dass ich Evan schlichtweg nicht mitnehmen kann, da die Umstände es nicht zulassen.
Ein intaktes soziales Leben mit einem besonderen Kind zu haben, ist sehr schwierig. Ich komme immer wieder sehr schnell an unsere Grenzen und merke, dass so vieles einfach gemeinsam nicht möglich ist. An manchen Tagen wünsche ich mir mehr Normalität und Alltag. Nicht immer zwischen den Welten tauchen zu müssen, sondern gemeinsam mit meinen Kindern, die Luft einzuatmen, die alle einzuatmen scheinen. Manchmal erscheinen mir diese Welten einfach so unterschiedlich zu sein, dass es zu einer Zerreisprobe wird, von beiden ein Teil zu sein. Ich möchte, dass der kleine Bruder nicht zu kurz kommt und diese Zerreisprobe erst gar nicht zu spüren bekommt. Also schwimme ich weiter, mal etwas weiter oben und mal wieder ganz unten. Ich nehme mir mittlerweile das Recht heraus, mit dem kleinen Bruder aufzutauchen. Immer in dem Wissen, dass Evan behütet und gut gelaunt, dort schwimmt, wo er es aushalten kann und sich wohl fühlt. Vieles ist mit Evan einfach nicht möglich und dass ist okay so. Er gibt sein Tempo vor und signalisiert mir klar was er möchte. Zum Glück, habe ich die Möglichkeit auch mal ohne ihn, aufzutauchen und andere Luft einzuatmen. Aber genauso gerne tauche ich auch wieder ab.
Ich glaube fest an Inklusion und es geht mir nicht darum die Kluft zwischen „den Welten“ zu vergrößern. Es ist lediglich mein Empfinden. Leider ist es immer noch so, dass wir eher spezielle Veranstaltungen von und für Behinderte besuchen. In einer Welt zu Recht zukommen, oder sogar zu überleben, die nicht Evans Bedürfnissen gerecht werden, ist eine tägliche Anstrengung und Herausforderung. Für Evan, für seinen Bruder und für mich. Wir stellen uns dieser Anstrengung. Jeden Tag aufs Neue. Wir gehen schwimmen, meistens, wenn das Bad leer ist – aber wir gehen. Wir verabreden uns. Wir fahren in den Urlaub. Gehen ins Abenteuerland, eine Stunde vor Schließzeit. Wir gehen zu Theatervorstellungen – in der letzten Reihe damit wir schnell und unerkannt flüchten können. Aber wir tauchen auf. Mal gemeinsam, mal alleine oder mal zu zweit. So wie es eben geht.
Ich glaube darum geht es im Leben, zu schauen was wie möglich ist. Sich einzugestehen was nicht möglich ist, aber den Fokus darauf zu legen, was funktioniert. Neben der Freude auch die Traurigkeit willkommen zu heißen und ihr einen Platz im Leben zu geben. Denn nur weil man sie ignoriert, geht sie nicht weg. Ganz im Gegenteil. Sie scheint immer mächtiger zu werden. Seid ich die Traurigkeit herzlich bei mir wilkommen heiße, geht es besser. Manchmal trinken wir einen Kaffee zusammen aber dann geht sie auch wieder. Sie hat ihren Platz in meinem Leben aber nicht permanent. So schnell und laut sie an die Tür geklopft hat, so leise und schnell ist sie im nächsten Augenblick schon weg und macht der Freude Platz.
Und so schwimmen wir drei weiter. Gemeinsam. Denn das ist das Wichtigste: Gemeinsam.