Ich schaff das schon, ich schaff das schon
Ich schaff das ganz alleine
Ich komm bestimmt, ich komm bestimmt
Auch wieder auf die Beine
Ich brauch dazu, ich brauch dazu
Vielleicht ’ne Menge Kraft
Doch ich hab immerhin
Schon ganz was anderes geschafft“
(Quelle: Lied, Rolf Zuckowski)
Dieses Lied begleitet Kimja Sophie van den Berg schon seit frühester Kindheit und ist zu einer Art Leitspruch geworden. Das einzige, was sie darin häufig anders sieht, ist das man gemeinsam, an einem Strang ziehend, noch viel mehr erreichen kann, denn man muss nicht alles alleine schaffen. Kimja ist 30 Jahre alt und lebt mit ihrer Familie im Landkreis Cuxhaven, relativ mittig zwischen Bremen/Hamburg und Cuxhaven direkt am Wasser. Ihr Sohn Kjell hat den Pflegegrad 3 und einen Schwerbehindertenausweis von 50% und mit den Merkzeichen B & H. Kraft zieht Kimja Sophie aus kreativen Projekten, wie Nähen, Hausumbau, Musikevents, Fotografie und Theater spielen. Auch das Schreiben auf ihrem Blog „Die Weltenbauer“, entspannt sie sehr.
Magst Du Dich und Deine Familie kurz vorstellen? Was ist bei Dir /Euch anders und unsichtbar?
Wir sind eine inzwischen 5-köpfige Familie, dazu gehören mein Mann Lukas, 31 Jahre, meine Söhne Kjell, 9 Jahre und Jona, 7 Jahre. Und ich, Kimja, 30 Jahre und seit Mitte Dezember macht uns unser Babymädchen Tjalda komplett. Zudem gehören den Kindern noch zwei 4- jährige Katzen Paul & Paula, an denen besonders Kjell sehr hängt. Mein Sohn Kjell, ist Asperger Autist, zudem liegt in einigen Teilen eine Hochbegabung vor. Wir haben ihn sehr früh testen lassen und seit er vier Jahre alt, ist er 1-2x wöchentlich nachmittags im Autismuszentrum.
Wo und wie wird Deine/Eure unsichtbare Behinderung im Alltag sichtbar? Wie beeinflusst Dich/Euch die Behinderung im Alltag?
Besonders im Schulalltag zeigt sich bei uns das „Inklusion“ nicht immer einfach ist. Sie erfordert viel Arbeit von allen Seiten. Mit 5 Jahren wurde er eingeschult, da eine Rückstellung nicht genehmigt wurde und hat von Anfang an eine Assistenz an seiner Seite, inzwischen hat er die dritte Assistenz, die ihn begleitet. Wir waren Anfang vergangenen Jahres soweit, dass er fast ein halbes Jahr nicht mehr beschulbar war und wir ihn Zuhause beschult haben. Hausaufgabenszenarien haben hier täglich 3-4 Stunden gedauert und es war ein, für alle Seiten, schrecklicher Kampf. Die Gesamtsituation hat das ganze Familiensystem sehr belastet und das tägliche Thema Schule hat einen viel zu großen Raum eingenommen, wo kaum noch Platz für anderes blieb. Vor allem, da mein Mann Vollzeit und ich knapp 34 Stunden arbeite. Im Nachhinein sehe ich es so, dass Kjell einfach die Reißleine gezogen hat und uns wachgerüttelt hat. Bis hierhin und keinen Schritt weiter! Am Schluss hat er alles verweigert, selbst das Betreten des Schulgebäudes war nicht mehr möglich. Wir haben ihn quasi täglich abgeholt. Wir haben sehr viel verschiedenes Lernmaterial angeschafft, um herauszufinden, wie wir ihn in seinem Prozess am besten unterstützen und motivieren können. Aber vieles funktioniert nur eine Weile und dann benötigt Kjell wieder neue Reize. Es ist also ein ständig wandelnder Prozess, in dem wir uns befinden, indem wir immer wieder neu ausloten müssen, was funktioniert und was nicht. Eine neue Schule und eine neue Schulassistenz zu finden, die bereit waren, sich dieser Herausforderung zu stellen, hat sehr lange gedauert. Nun besucht er seit August eine neue Grundschule in Klasse 4, wo alle pädagogischen Kräfte sehr bemüht sind und nach und nach stellen sich kleine Teilerfolge ein. Die Teilhabe am regulären Unterricht verlangt Kjell viel ab. Häufig fällt es ihm sehr schwer die Stunden durchzustehen und nimmt sich mit seiner Assistenz Auszeiten beispielsweise in der Schulbücherei. Viel Zeit nimmt auch das tägliche Zeichnen und Malen ein. Er erhält keine Zensuren mehr, sondern über den Nachteilsausgleich ein schriftliches Zeugnis. Da er beispielsweise Fertigkeiten, wie Lesen und Schreiben verweigert, aber auch häufig die reguläre Teilnahme am Unterricht, wäre es anders im normalen Schulsystem auch nicht beurteilbar.
Wir starten nun mit projektorientiertem Arbeiten mit Kjell und sind gespannt, wie er damit zurechtkommt. Seine ersten Themenwünsche entsprachen definitiv seinen Interessen: Vulkane, Schiffsunglücke / Titanic und Römer. Zudem machen wir uns gerade mit allen Beteiligten Gedanken, wie es nach Klasse 4 weitergehen kann.
Was war die blödeste Reaktion in Bezug auf seine Behinderung, mit der Du je konfrontiert warst?
Sprüche wie „Das verwächst sich ja wieder“, „Das sieht man ihm ja gar nicht an“ , „Er stellt sich ja nur an“ oder das leidige „Was ist denn seine Inselbegabung?“ prallen inzwischen an mir ab.
Was war Dein positivstes Erlebnis in Bezug auf Kjells Behinderung im Alltag?
Ich finde es immer wieder wunderbar zu sehen, was für komplexe Gedanken sich mein Sohn über sich und seine Umwelt macht. Wir führen so umfangreiche philosophische Gespräche an manchen Tagen. Vor Kurzem sagte er aus dem Nichts heraus: „Mama, ich habe oft das Gefühl das ich nur ein kleiner Teil von einem großen Ganzen bin – Das ist ein sehr unangenehmes Gefühl“. Er kommt häufig auf Gedankengänge, über die sich andere gleichaltrige Kinder keine Gedanken machen und das fasziniert mich sehr und ich wünsche mir sehr, dass er diesen besonderen Blick für sich, seine Umwelt und für seine Bedürfnisse bewahren kann.
Welche Reaktionen und Verhaltensweisen Deiner Mitmenschen würdest Du Dir wünschen? Hast Du einen Tipp, wie man mit doofen Situationen und unfreundlichen Menschen umgehen kann?
Häufig neige ich dazu, sein Verhalten erklären zu wollen, um auf mehr Akzeptanz zu hoffen. Vermutlich nicht immer der klügste Weg, aber es ist mir wichtig das Kjell auch sieht, dass er nicht „falsch“ ist. Ich wünsche mir mehr Verständnis für die Menschen in unserer Gesellschaft, die nicht nachdem Schema F funktionieren und dass das Thema Schule für Kinder mit Beeinträchtigungen keine so große Rolle spielen muss und sich das Regelschulsystem mehr darauf einlassen kann, dass nicht alle Kinder gleich funktionieren.
Würdest Du Dir wünschen, dass Deine Behinderung (Eure Behinderung) sichtbarer wäre? Wenn ja/nein, warum?
Manchmal gibt es Momente, in denen ich mir das wünschen würde, besonders wenn uns sehr viel Unverständnis entgegenschlägt für sein (für andere nicht nachvollziehbares) Verhalten. Von einem Kind im Rollstuhl würde man auch nicht verlangen beispielsweise die Treppe hochzulaufen. Bei unsichtbaren Beeinträchtigungen denken viele, ach das müsste er doch hinkriegen. Er ist alt genug, etc. Auch wird häufig im weiteren Umfeld nicht gesehen, wieviel Zeit das Gesamtpaket einnimmt. Ich muss ständig für Kjell präsent sein, ihn deutlich mehr beaufsichtigen als gleichaltrige. Wir haben sehr viele Termine mit Therapien und regelmäßigen Austauschrunden/Hilfeplangepräche/ Therapieverlängerungen, sowie Anträge bei Krankenkassen, usw. Manchmal würde es das Leben vereinfachen, wenn andere das genau so sehen würden, wie durch getaktet unser Leben ist.
Hattest Du schon einmal (unbegründete) Vorurteile einem anderen Menschen gegenüber? Wenn ja, warum?/ Wie sieht für Dich eine ehrliche Begegnung aus?
Was für eine komplexe Frage, auf die es wirklich schwer ist, eine Antwort zu finden: Ich wünsche mir Begegnung auf Augenhöhe und nicht von oben herab. Das erwarte ich von anderen mir bzw. uns gegenüber und versuche dies auch andersherum zu leben.
Ich wünsche mir für die Zukunft, dass das Thema Schule keinen so großen Raum mehr einnimmt, wie es die vergangenen zwei Jahre leider war und das Kjell ein eigenständiges Leben führen kann und seine umfangreichen tollen Ressourcen nutzt, die er mitbringt und sich selbst nicht im Weg steht.
Vielen Dank liebe Kimja Sophie für das offene und ehrliche Interview!
Wenn ihr mehr von Kimja lesen möchtet, dann schaut doch mal hier vorbei:
www.Instagram.com/dieweltenbauer
www.dieweltenbauer.blogspot.de