Mein 2. Junge. Mein zweites wundervolles Menschenkind. Meine Gedanken schweifen in letzter Zeit immer wieder ab. Immer wieder kommt mir das Wort Schattenkind in den Sinn. Stehst Du im Schatten Deines besonderen Bruders? Diese Frage stelle ich mir in letzter Zeit immer öfter. Alle haben gesagt, dass es mit Dir “einfacherer“ wird. Mit einem gesunden Kind ist es doch immer “einfacher“, oder etwa nicht? Alles sollte funktionieren. Du solltest funktionieren. Im Moment bist Du in allen extrem herausfordernd. Herausfordernd willensstark, herausfordernd gefühlsstark, herausfordernd mutig, herausfordernd laut. Immer wieder frage ich mich: Ist das normal? Stehst du im Licht oder im Schatten? Oder vielleicht in der Mitte? Dein großer Bruder hat durch seine Besonderheit für die Gesellschaft immer eine “Entschuldigung“ für sein Verhalten. Du hast das nicht. Du müsstest Dich daher doch gesellschaftskonform und angepasst verhalten, oder nicht? Schnell lasse ich mich verunsichern und zweifle an mir.
Und dann nehme ich sie ab. Die Gesellschaftsbrille. Und plötzlich ich Dich wieder ganz deutlich. In all Deinen wunderbaren Farben. Wie schön herausfordernd einfühlsam und willensstark Du bist. Wie schön diese Attribute doch in Wahrheit sind. Wie natürlich Du mit der Besonderheit Deines großen Bruders umgehst. Wie wundervoll offen und ehrlich Deine intuitive Einstellung zu dem Thema Behinderung ist. Wie selbstverständlich Du mit dem Thema umgehst. Mit Evans besonderen Freunden und unserer Lebenssituation. Mit unserem großen Netzwerk an Menschen.
Mein Bruder kann nicht sprechen, na und?!
Du machst dass alles einfach wunderbar und versucht dabei Dich und Deinen Platz in der Familie zu finden und diesen zu behaupten. Ich weiß, dass viele Situationen mit Deinem großen Bruder nicht einfach sind und Du so manche Herausforderungen im Alltag zu meistern hast. Das merkt man Dir an. Aber weißt Du was? Du machst das wunderbar. Ich glaube wir machen das wunderbar.
Heutzutage wird in der Gesellschaft so großen Wert daraufgelegt, dass wir Menschen und auch Kinder funktionieren. Immer wieder lasse ich mich davon verunsichern und im Nu trage ich wieder die Gesellschaftsbrille, durch die alles ganz anders aussieht. Das Leben mit einem behinderten Kind und Geschwisterkind ist in vielen Bereichen einfach anders herausfordernd. Außenstehende Menschen können das nicht immer nachvollziehen und das ist auch in Ordnung. Wie sollen sie auch? Aber ich kann es. Ich kann Dich sehen, kleiner Bruder. Ich sehe Deine Sorgen und Deine Verunsicherungen. Ich sehe Deine Freunde und Deinen Kummer und ich nehme all das an ohne Dich zu verurteilen. Denn all Deine Gefühle haben ihre Berechtigung. Mit dem Abnehmen der Gesellschaftsbrille, entferne ich mich automatisch auch von dem Wort Schattenkind. Ich glaube, dass die Beziehung zu Deinem Bruder Dich in Deinem Leben sehr prägen wird. In vielen guten und auch in schlechten Bereichen. Ich bin sehr stolz auf Dich, kleiner Bruder. Du nimmst unser Leben und Deinen großen Bruder mit einer Selbstverständlichkeit an, die manch großer Mensch, nicht zu erreichen schafft. Ich weiß, dass Licht und Schatten zum Leben dazugehören. Das Beide gleich wichtig sind. Das Licht kann nicht ohne den Schatten wertgeschätzt werden. Ich werde ruhiger und weiß ganz tief in meinem Herzen, dass Du Deinen Weg beschreiten wirst und dass Du immer wieder einen Weg aus dem Schatten findest. Direkt ins Licht.