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Seelenstriptease

Seelenstriptease. Sich ausziehen. In der Öffentlichkeit. Sich in der Öffentlichkeit öffentlich ausziehen. Warum mache ich das eigentlich? Nein, ich ziehe mich nicht öffentlich aus aber ich schreibe öffentlich über unser Leben und über meine Gefühle. Seelenstriptease, so könnte man es nennen. Ich stelle mir immer mal wieder diese Frage:

Marcella, warum machst Du das eigentlich? Und um ehrlich zu sein, ist es im Grunde ganz einfach:

Um aufzuklären. Um Vorurteile abzuschaffen. Um Verständnis zu erhalten und zu schaffen. Um Anderen und mir Mut zu machen. Um eine Natürlichkeit und kein Mitleid zu erwirken. Um willkommen zu sein und nicht ausgeschlossen zu werden. Um zu informieren.

So ist es, glaube ich zumindest, ganz kompakt zusammengefasst. Ich habe mit diesem Blog angefangen, als ich an einem Wendepunkt in meinem Leben stand. Ehrlich gesagt, wusste ich nicht mehr weiter. In dieser Zeit habe ich mich nur noch mit meinem selbstbedrucktem T-Shirt

„Mein Sohn ist weder frech noch bin ich überfordert. Mein Sohn ist Autist“

aus dem Haus getraut. Entweder wäre ich innerlich eingegangen oder ich wäre geplatzt – vor Wut, vor Traurigkeit, vor Verzweiflung, vor Ungerechtigkeit – und das hätte definitiv äußerlich einige Spuren hinterlassen. Ich habe mich in dieser Zeit in der Öffentlichkeit nicht mehr wohlgefühlt. Überall sind wir negativ aufgefallen und mussten uns rechtfertigen – das war zumindest mein Eindruck und Gefühl. Manchmal ging es sogar schon so weit, dass wir beschimpft und beleidigt wurden.  

Irgendwann in dieser schweren Zeit habe ich mich gefragt, wie es weitergehen kann. Welche andere Möglichkeit bleibt mir noch? Was kann ich machen, damit es mir und Evan besser ergehen kann? Und dann von heute auf morgen, habe ich mich hingesetzt und habe geschrieben. Ich habe all meine Gedanken, Gefühle, Erfahrungen, Wut, Verzweiflung, Freude und meinen Kummer auf Papier gebracht. In meinem Falle trifft es gut zu: sich den Ballast von der Seele zu schreiben. Danach fühlte ich mich befreiter. Irgendwie aufgeräumter. Es ging mir nicht auf einmal super gut, aber ich fühlte mich sortierter. Der Anfang zu unserem Blog war geschaffen. Dies wusste ich in dem Moment allerdings noch nicht, da ich diese intimen Gedanken erstmal nur für mich behalten wollte. Für mich ist es zu einem Ritual geworden, mich jeden Abend hinzusetzen und zu schreiben. Für das abendliche Schreibritual habe ich sogar Verabredungen und Veranstaltungen abgesagt. Wer mich kennt weiß, dass ich ein sehr sozialer Mensch bin – diese Entwicklung hatte also etwas zu bedeuten.   

Mit dem Schreiben fing ich automatisch an, meine Einstellung zu unserem Leben und zu Evans Behinderung zu ändern. Den Blickwinkel zu wechseln. Ich habe vorher nicht offen über Evans Behinderung sprechen können. Auf die Besonderheit angesprochen, habe ich meistens so herumgedruckst. Mich entschuldigt. Ich habe versucht dem Thema so wenig Raum wie möglich zu geben. Immer irgendwie in der Hoffnung, dass es dann von alleine verschwindet. Allerdings, wie sollte es auch anders sein, ist das Gegenteil passiert. Die Behinderung hat immer mehr Raum eingenommen. So viel, dass ich zu verschwinden drohte.

Irgendwann wurde aus offline dann online. Irgendwann habe ich mich entschlossen, meine Erfahrungen zu teilen. Ich habe an meinem Umfeld gemerkt, dass es noch anderen Menschen so ergeht wie mir. Warum also nicht meine Erfahrungen mit Anderen, Gleichgesinnten, teilen? Zudem habe ich immer mehr und mehr Fragen über Evan und über sein Verhalten gestellt bekommen. Ich habe eine große Unwissenheit, eine Beklommenheit, dem Besonderen gegenüber gespürt. 

Einen Blog über ein so intimes und persönliches Thema zu betreiben, fühlt sich oft wie ein Seelenstriptease an. Irgendwie ist man angezogen nackt. Fremde Menschen lesen private und intime Situationen aus unserem Leben aber mir war und ist es immer noch sehr wichtig authentisch zu sein. Ich möchte nicht nur – die Betonung liegt auf dem nicht nur, da ich es hin und wieder doch gerne tue – schöne Bilder posten und witzige Artikel schreiben. Schreiben wie gut es uns immer geht und wie wenig uns Evans Behinderung beeinträchtigt. Schreiben in welch einer Idylle wir leben. Schreiben, dass wir nie verzweifelt sind. Nein, ich möchte ehrlich schreiben wie es uns ergeht und was mich bewegt. Ehrlich sein und ehrlich bleiben. Oftmals habe ich dafür schon Kritik einstecken müssen und das ist völlig in Ordnung. Nicht jeder muss gut finden was und wie ich schreibe. Ich muss mich in den Artikeln wiederfinden und das mache ich immer mit dem Blick auf Evan. Bis jetzt funktioniert es für mich. Für uns. Ich versuche immer so zu schreiben, dass es in Evans Sinne ist. Ich möchte ihn nicht bloßstellen noch möchte ich ihn vorführen. Manchmal ist es ein schmaler Grat zwischen Ehrlichkeit und Vorführen. Aber ich habe mich entschieden diesen Weg der Öffentlichkeit zu gehen. Ich fühle, dass es unser Weg ist. Ich fühle, dass Evan mich bei jedem Artikel trägt und meine Hand hält. 

Ich möchte Menschen mit meinen Artikeln erreichen. Ich möchte Ihnen zeigen, wie das Leben mit einem behinderten Kind ist. Nicht immer einfach, manchmal zum Erschöpfen, hin und wieder zum Verzweifeln aber immer mit voller Liebe und Hingabe. Evan ist ein wunderbarer Mensch, der sich nicht durch seine Besonderheit auszeichnet. Er ist so wie er ist. Ich würde mir Evan keinen Moment dieser Welt anders wünschen. Das meine ich völlig ehrlich. Ich wünsche mir hin und wieder andere Rahmenbedingungen aber sich Evan anders vorzustellen, ist für mich undenkbar. Jeden Tag aufs Neue betrachte ich diesen wundervollen Junge mit Liebe. Er hat mir viele andere Seiten des Lebens gezeigt, die ich sonst nie zu Gesicht bekommen hätte. Das mag alles wie in einem Kiosk Taschenbuchroman für einen Euro klingen, aber es ist mein völliger ernst. Egal wie anstrengend der Tag auch war, am Abend bin ich unendlich dankbar, dass ich Evan in meinem Leben habe.

Ich habe einen Wunsch für Evan. Ich möchte, dass Evan so akzeptiert und respektiert wird wie er ist. Ich wünsche mir, dass nicht seine Behinderung, sondern seine Persönlichkeit im Vordergrund steht. Ich wünsche mir, dass Menschen Wege finden, um mit Evan zu kommunizieren und ihn nicht ausschließen. Ich wünsche mir, dass Evan erwünscht ist und nicht ertragen wird. Ich wünsche mir für Evan, dass er nicht nur aus schlechtem Gewissen miteinbezogen wird, sondern eine Bereicherung für die Menschen ist. Ich wünsche mir, dass Evan die gleiche faire Chance erhält wie andere Kinder in seinem Alter. Ich wünsche mir, dass Evan als junger Mann ein selbstbestimmtes und menschenwürdiges Leben leben kann.

Wenn ich nur einen Menschen mit meinen Artikeln erreiche, einen Menschen, der offen auf Evan oder andere Menschen mit einer Behinderung zugeht und versucht hinter die Fassade zu blicken, dann habe ich mein Ziel erreicht. Dann bin ich glücklich. Jeder Mensch hat eine Würde und das Recht so angenommen zu werden wie er/sie ist. Der menschliche Wert darf sich nicht durch seine gesellschaftliche Leistung definieren. Jeder trägt auf seine Weise zu der Gesellschaft bei und das hat rein gar nichts mit seiner sichtbaren Leistung zu tun. Ich möchte nicht den Glauben an die Menschheit verlieren. Das Schreiben hilft mir dabei. Sehr sogar. Und ganz ehrlich, dafür ziehe ich mich gerne aus!

In diesem Sinne, auf die nackten Tatsachen, die je nach Lichteinfluss, manchmal ein kleines bisschen mehr schön und manchmal ein kleines bisschen weniger schön anzusehen sind – aber immer einen ehrlichen Blick auf das Leben geben.

Herzlichst, Marcella

 

 

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