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Familie.

Mit den Kindern gemeinsam eine Fahrradtour machen. Gemeinsam auf den Weihnachtsmarkt gehen, den Kindern zuwinken während sie auf dem Karussell fahren. Zwei Glühwein und zwei Kinderpunsch kaufen und zusammen trinken. Den Kindern bei den Hausaufgaben helfen. Sie glücklich und erschöpft vom Sportverein abholen und ihnen gespannt zuhören, welche Abenteuer sie erlebt haben. Gemeinsam in den Urlaub fahren. Familie sein und leben. 

Diese und andere Dingen sind für viele Eltern und Familien eine Selbstverständlichkeit. Sie sind so selbstverständlich, dass man gar nicht mehr darüber nachdenkt. Für uns sind sie es leider nicht. Wie gestaltet sich das Familienleben mit einem behinderten und einem gesunden Kind? Mit einem Kind, welches zu 100% Deine Aufmerksamkeit benötigt? Wie schafft man es gleichzeitig, die unterschiedlichen Familienbedürfnisse zu erfüllen? Mit diesen Fragen setzte ich mich im Moment sehr ausgiebig auseinander. Ich merke, dass mein Wunsch nach Familie nicht der Realität entspricht. Gemeinsam mit meinem kleinen Michel Familienausflüge zu unternehmen, gestaltet sich sehr schwer. Fast unmöglich. Evan benötigt zu 100% meine alleinige Aufmerksamkeit. Er möchte seine Wege auf seine Weise gehen oder befahren. Fragen Sie nicht, wie diese Weise aussieht. Bei unserem letzten Ausflug waren zwei Staubsauger dabei. Keine Kinderstaubsauger, so viel kann ich Ihnen verraten. Andere Kinder gehen mit Ihren Puppenwagen spazieren. Wir haben Staubsauger. Das klingt lustig. Ist es auch – ein wenig. Zumindest sieht es so aus. In der Realität hängt ein Ausflug aber von genau diesen Staubsaugern ab. Darf er sie nicht mitnehmen, brauchen wir erst gar nicht los. Sind wir dann unterwegs, kann eine Kleinigkeit Evan so sehr aus dem Konzept bringen, dass wir sofort wieder umkehren können. Natürlich mit seinen Staubsaugern. Evans kleiner Bruder, alias Nummer 3, ist noch klein und toleriert diese Aussetzer und Besonderheiten. Noch. Irgendwann möchte auch Nummer 3 auf seine Kosten kommen. Ich merke jetzt schon, dass es immer schwieriger wird, die unterschiedlichen Bedürfnisse zu erfüllen. Ganz zu schweigen von der Logistik: versuchen Sie mal 2 Staubsauger und einen Kinderwagen samt 4 Personen in ihren Kleinwagen zu verstauen.

Ich ertappe mich immer öfter, kleine Ausflüge zu machen, wenn Evan in der Schule ist oder am Wochenende andere Abenteuer erlebt. Ausflüge mit meinem kleinen Michel sind keine Erholung. Es ist Arbeit. Harte Arbeit. Es bedeutet immer auf der Hut zu sein. Immer die kommenden Gefahren und Ablenkungen im Blick zu haben. Geht es gut? Oder können wir nach 10 Minuten wieder fahren. Jeder Ausflug gleicht einer Wundertüte. Man weiß bis zum Schluss nicht, was sich in der Tüte befindet oder in unserem Falle wie der Ausflug endet. Das macht müde und belastet die komplette Familie.

Hinzu kommt, dass die meisten Ausflüge für Evan eine Überwindung sind. Am liebsten ist er momentan zu Hause und spielt im Wohnzimmer, seinem 2. Kinderzimmer. Evan ist sehr gerne zu Hause und freut sich jedes Mal von einen seiner lieben Damen oder seinen Großeltern betreut zu werden. Also ist es ganz offensichtlich. Evan hat kein Problem damit, hin und wieder bei den Ausflügen nicht dabei zu sein. Es ist  – mal wieder –  mein Problem. Ich habe ein schlechtes Gewissen, wenn Evan nicht dabei ist. Ich fühle mich schlecht, ihn unterzubringen und ohne ihn Abenteuer zu erleben. Nicht nur habe ich ein schlechtes Gewissen, ich bin traurig. Ich möchte, dass wir zusammen als Familie Abenteuer erleben und danach darüber sprechen und zusammen lachen. Ich möchte, dass wir gemeinsam einen Familienausflug auf den Weihnachtsmarkt machen.  Aber meine Wünsche sind nicht Evans Wünsche. Evan braucht und will oftmals diese Dinge nicht. Evan ist glücklich. Evan geht es gut. Evan hat kein Problem. Es ist mein Problem.

Hin und wieder kommt es durchaus vor, dass ich kein schlechtes Gewissen habe. Ende gut alles gut? Schön wärs, denn wenn ich schon einmal kein schlechtes Gewissen habe, kommt ganz automatisch der Zeigefinger meiner Umwelt:

„Wie, das kannst Du?“ Oder „Wie, das machst Du so?“

Ohne auch nur irgendeine reale Vorstellung zu haben, wie sich unser Leben anfühlt. Und prompt ist es wieder da: Das schlechte Gewissen. Mittlerweile sage ich ihm (dem schlechten Gewissen) „Hallo“, biete ihm oder ihr eine Tasse Tee an, um sie oder ihn danach schnell wieder rauszuschmeißen. Früher habe ich ihm/ihr noch ein Mittagessen und manchmal sogar ein Abendessen angeboten. Mittlerweile ist damit Schluss. Einen Tee und dann: Tschüß! Kurz zusammengefasst bedeutet es, dass ich mir nicht mehr so schnell bzw. nicht mehr so lange ein schlechtes Gewissen einreden lasse.

Umso älter Nummer 3 wird, umso präsenter wird eine Tatsache für mich: Ich werde viele Dinge mit Evans kleinem Bruder machen, die ich mit Evan nicht machen kann. Wir werden einige Ausflüge nicht zu viert unternehmen können. Diese Erkenntnis macht mich traurig. Sehr traurig. Und das ist auch in Ordnung. Ich habe in den letzten Jahren gelernt, dass es wichtig ist, Dinge und Begebenheiten zu betrauern. Nur dann geht es weiter. Für mich zumindest. Wenn die Zeit des Betrauerns vorbei ist, geht es mir besser. Die Traurigkeit bleibt, aber ich beginne die Dinge anders zu sehen. Nicht nur von der einen Seite. Langsam wird noch eine andere Sichtweise erkennbar. Wie in diesem Falle. Es ist in Ordnung, dass ich hin und wieder das Bedürfnis verspüre, ohne eine Wundertüte auf Wanderschaft gehen zu wollen. Ich muss dem schlechten Gewissen noch nicht einmal eine Tasse Tee anbieten. Ich brauche ihn/sie gar nicht ins Haus zu lassen. Zudem werden es immer Unternehmungen oder Aktionen geben, die ich nicht mit Nummer 3 machen kann, sonder nur mit Evan. Nur mit dem großen Bruder. Auch wenn diese Aktionen weniger unter der normalen Vorstellung von Familienausflug fallen, haben sie für mich nicht weniger Bedeutung. Und was ist schon normal? Evan und ich haben unsere eigenen Familienrituale. Zudem halte ich daran fest, dass man nicht weniger Familie ist, nur weil man bestimmte Dinge nicht zusammen erleben kann. Familie bedeutet für mich nicht mehr, dass man immer und überall zusammen sein muss. Es ist mehr das Gefühl, trotz einer Distanz oder Unterschiede, zusammenzuhören.

Es wird Ausflüge geben, die werden wir zu dritt, zu zweit, alleine oder auch zu viert machen. Je nach Bedürfnissen und Besonderheiten orientiert. Spätestens wenn wir abends wieder nach Hause kommen und alle im Bett liegen sind wir zu viert. In meinem Herzen sind wir sowieso immer zu viert. Egal wo der eine oder andere gerade ist.

Auf die Familie. Egal in welcher Konstellation. 

 

 

 

 

 

 

 

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