Diesen Satz musste ich diese Woche am eigenen Leib erfahren.
„Man muss nicht immer stark sein“.
Ein Satz, 6 Wörter und so viel Wahrheit. Seit 4 Jahren bin ich alleine für meinen Sohn verantwortlich. Ich bin Mutter, Therapeutin, Putzfrau, Köchin, Organisatorin, Geschäftsfrau (einiges eher schlecht als recht) und wenn noch etwas Speicherkapazität vorhanden ist: ein wenig Frau.
Ich habe mir im Laufe der Zeit ein undurchdringliches Schutzschild angelegt. Jedes Jahr ist es ein wenig gewachsen. Zentimeter um Zentimeter. Schicht um Schicht. Ich bin so ähnlich wie Super Mario zu seinen besten Zeiten herumgelaufen. Immer von einem Schutzschild umgeben und genügend Lebenspunkte auf dem Konto. Alle Gefahren, Sorgen, Ängste und Kommentare sind an mir abgeprallt. Wäre dieses undurchdringliche Schutzschild nur für mich verantwortlich, wäre es bestimmt weniger verbraucht. Allerdings hat es nicht die geringere Aufgabe, als meinen kleinen Michel aus Lönneberga mit zu schützen. Wenn wir in der Welt der Super Mario Stars bleiben, sähe es ungefähr so aus:
Ich, getarnt als Super Mario, versuche mit allen Möglichkeiten mit Evan, getarnt als Yoshi (dem grünen und süßen Dinosaurier) Schritt zu halten. Springe und laufe ihm hinterher, egal wie tief der Graben oder wie gefährlich die Schluchten auch sind. Yoshi kann mich nicht abhängen. Noch schnell den Endgegner erledigen und weiter geht’s ins nächste Kapitel.
So ähnlich habe ich letzten Jahre erlebt. Immer auf der Hut sein. Was lauert an der nächsten Ecke? Wo ist Yoshi? Schnell hinterher. Zwischendurch gibt es immer mal wieder kleine Auszeiten. Strecken, auf denen keine tiefen Gräben oder gefährliche Schluchten lauern. Aber an ein normales Leben ist nicht zu denken. Davon sind wir weit entfernt. Wir kommen nicht zur Ruhe. Gerade wenn wir auf einer geraden, gut überschaubaren, Strecke sind und ich denke, jetzt wird es ein wenig ruhiger, klopft im nächsten Moment der Herzfehler an die Tür.
„Hallo“! Ich bin auch noch da. Bitte schenke mir Beachtung.Sofort!“
Meinen Liegestuhl, den ich vorher mühevoll aufgebaut habe, wird vor der ersten Nutzung schon wieder auseinandergebaut und verstaut. Weiter geht unsere Reise.
Die Kombination aus Evans schwerem Herzfehler, aus seinem halben Herzen, und seiner Autismus Diagnose fällt mir zunehmend schwerer. Die Last der Diagnosen und was diese mit sich bringen, droht mich zu erdrücken. Gräbt mich immer mehr, immer weiter, in den Boden. An machen Tagen stecke ich bis zur Hälfte im Boden. Nur noch mein Oberkörper ragt heraus. (Wäre ich nicht so verzweifelt, wäre dieser Anblick bestimmt sehr amüsant.) So erlebe ich an bestimmten Tagen meine Welt, mein Umfeld: Halb ragend aus der Erde. Mittendrin aber nicht dabei. In Gesellschaft aber trotzdem alleine.
Ich wache, achte, dass Evan trotz fehlender Kommunikation ernst genommen und gehört wird. Stelle, werfe, mich schützend vor ihm. Steige in den Ring und kämpfe jeden Kampf zu Ende. Egal wie stark oder überlegen der Gegner auch ist. Ich bin dabei! Wenn es um Evan geht, verstehe ich keinen Spaß. Löwenmutter. Früher habe ich das Wort, Wortspiel, belächelt. Heute belächel ich die Menschen, die es belächeln. So wie ein Tier, dass sich seiner Beute sicher fühlt und kurz vor dem Angriff noch einmal durchatmet.
Ich bin ein durchweg positiver Mensch. Wenn mein Glas mehr leer als voll ist, erfreue ich mich noch über den letzten Schluck. Wenn ich mein Auto gegen einen Pfosten fahre (was an dieser Stelle natürlich rein hypothetisch gemeint ist), freue ich mich, dass es kein größerer Gegner war und der Schaden dementsprechend klein ausgefallen ist. Wenn mein Happy-End des Tages am Abend immer noch nicht zum Vorschein gekommen ist, suche ich es mit vollem Herzblut und öffne, wenn es sein muss, um 23:59 noch einen Piccolo Sekt mit Holunderblütensirup. Mein Happy End des Tages. Für mein Happy-End des Lebens brauche ich nur die Kinderzimmertür zu öffnen.
So sehr ich auch an meiner positiven Art festhalte, 4 Jahre Kampf hinterlassen seine Spuren. Ich muss mir eingestehen, dass mein Schutzschild brüchig geworden ist. Es leckt. An vielen Stellen ist die Haut verschwunden und der Knochen liegt brach. Ungeschützt. Jede zusätzliche Anstrengung schmerzt, geht unter die nicht vorhandene Haut. Ich bin müde. Erschöpft. Erschlagen. Ich fühle mich wie ein Fass, aus dem man mit aller Kraft versucht, die letzten Tropfen Wasser herauszuholen. Jeder bedient sich am Wasser aber keiner sorgt für Nachschub.
So stark der Druck von außen auch ist, bin ich doch selber oft meine stärkste Feindin, mein größter Endgegner. Wenn andere Menschen ehrliches Verständnis für mich und meiner Situation, meiner Kraftlosigkeit, aufbringen, bin ich diejenige, die am wenigsten Verständnis für mich hat. Ich mich verurteile und mir immer und immer wieder sage:
„Stell Dich nicht so an. Reiß Dich zusammen. Du musst stark sein!“
In den letzten Jahren, habe ich mir wenig Schwäche zugestanden und durchgehen lassen. Sie sofort verdammt und fest hinter einer Panzertür verschlossen. Hat sich die Schwäche kurz gerührt, wurde gleich noch ein zusätzliches Schloss angebracht. Ich bin ein Meister im Wegschließen und Ignorieren. Aber was passiert, wenn man etwas ausschließt und ignoriert was eigentlich zum Leben gehört? Was ein fester Bestandteil des Lebens ist? Genau, irgendwann findet es ein Lücke und kommt heraus. Irgendwann brechen alle Sicherheitsschlösser und die noch so gut versteckten Empfindungen und Gefühle kommen zum Vorschein. Warum? Ganz einfach, weil sie dazugehören.
Diese Woche habe ich es am eigenen Leib erlebt: Man kann nicht immer stark sein und man muss auch nicht immer stark sein. Eins kann ich Euch sagen: Es fühlt sich gut an! Einfach mal hemmungslos zu weinen und sich zu bedauern. Die Tränen und die Emotionen wie Traurigkeit, Verzweiflung, Wut, Ratlosigkeit, Erschöpfung, Kraftlosigkeit, Hilflosigkeit und Müdigkeit loszulassen. Freizulassen. Umso mehr man von diesen Gefühlen freigibt, umso mehr Platz wird geschaffen: für positive Gefühle.
Die Schwäche gehört gehört zu meinem Leben. Ich kann sie nicht ständig ignorieren. Diese Woche ist es mir gelungen, sie an die Hand zu nehmen. Wir sind eine Weile, eine kurze Strecke, zusammen gegangen. Irgendwann habe ich sie losgelassen und bin alleine weiter gegangen. Aber sie wird wiederkommen. Und das ist auch gut so.
Mein Statement für dieses Monat: Mann muss nicht immer stark sein.
An alle Mütter, Väter, Eltern, Kinder, Menschen dort draußen: Setzt Euch nicht unter Druck. Versucht nicht auf Knopfdruck stark zu sein, denn: Man muss nicht immer stark sein.
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