Wie oft beschweren wir uns am Tag? Warum scheint es uns leichter zu fallen, zu kritisieren als zu loben? Warum denken wir selten an das was wir haben, aber immer an das, was uns fehlt? So ergeht es mir. Oft. Sehr oft. In vielen meiner Artikel beschwere ich mich. Klage an. Lasse mich aus. Kritisiere. Mache mich lustig. Beanstande. Nörgle. Belächle. Zweifel an – und das aus gutem Grund. Oft führe ich kämpfe mit Krankenkassen, laufe Anträgen und Gutachten hinterher und ärgere mich. Kritik zu äußern fällt mir persönlich leichter, als ein Lob auszusprechen. Warum? Keine Ahnung!
Vor ein paar Tagen ist mir ganz unbewusst bewusst geworden, wie reich beschenkt Evan und ich sind und eine unendliche Dankbarkeit überkam mich. Einige Menschen könnten und würden jetzt fragen, wofür ich denn dankbar bin. „Du hast doch schließlich ein behindertes Kind?! Ach ja und alleinerziehend bist Du auch noch!“ Aber wissen Sie was? Ich bin unendlich dankbar. Dankbar – damit meine ich weniger materielle Besitztümer (von denen ich sowieso nicht viel besitze) sondern eher unbezahlbare Güter wie Freundschaften, innere Zufriedenheit, Ausgeglichenheit, Gegebenheiten und unser Umfeld. Dinge, die ich im Alltag oft vergesse. Nicht sehe. Gerne übersehe. Dinge und Gegebenheiten, die manchmal in der Masse des Alltages untergehen. Ganz leise und ohne einen großen Wirbel zu hinterlassen, so dass ich mich manchmal frage: War da etwas? Ja, einiges! Müsste die Antwort lauten. Evan und ich haben großes Glück, so reich beschenkt zu sein. Das meine ich weder kitschig noch habe ich (m)eine rosarote Brille auf und schaue just in diesem Moment einen Rosamunde Pilcher Film mit einem überdurchschnittlichen unrealistischen Happy End.
Alleinerziehende, sehr arme, überdurchschnittlich gut aussehende, hoch intelligente und gebildete Frau mit 4 behinderten Kindern reist in ihren ehemaligen Heimatort, um ihr überraschendes Erbe – ein überdimensionales Schloss, welches sich in einem sehr guten Zustand befindet, wenig Heizkosten verbraucht und von zwei äußerst sympathischen Haushälterinnen bewirtschaftet wird – anzutreten und findet dabei zufällig ihre sehr attraktive adlige Jugendliebe wieder, der wiederum vom ersten Moment, an ihre 4 Kinder akzeptiert und diese am 3. Tag adoptiert und die komplette Familie nun einen Adelstitel besitzt.
Nein. Diesen Film schaue ich definitiv nicht. Wenn überhaupt, nur an einem Sonntagabend und mit reichlich Schokolade (heute ist weder Sonntag noch habe ich irgendetwas „schokoladiges“ zu Hause.
Das Gefühl der Dankbarkeit wurde mir nicht vor die Tür, verkleidet als äußerst einladendes Geschenk, gelegt und alles was ich machen musste, war die Tür zu öffnen. „Hey, hier liegt Deine Dankbarkeit, mach endlich die verdammte Tür auf!“ Nein. Es gab eine Zeit in meinem Leben, in der ich nicht wusste, wie ich den Tag überstehen sollte und ich mich von Stunde zu Stunde getragen habe. Reich beschenkt oder gesegnet? Ich? Wir? Pustekuchen! Am Anfang unseres gemeinsamen Weges, hatte ich oft das Gefühl umkehren zu müssen. Der Weg kam mir einfach zu steil und steinig vor und ich habe nicht verstanden warum ich keinen direkten, schöneren, Weg nehmen kann. Ich habe viele Menschen an uns vorbeiziehen sehen. Die Meisten schienen so glücklich und unbelastet. Daneben kam ich mir total überflüssig und träge vor. Trotz dieser ganzen Unsicherheiten sind wir diesen Weg immer weitergegangen. Wir haben etliche Pausen eingelegt, mal etwas länger und mal etwas kürzer, aber wir haben ihn nie verlassen. Unseren Weg. Nach 5 Jahren auf diesem Weg, an manchen Abschnitten glich es eher einem Bergaufstieg, habe ich das Gefühl wir sind an einem ganz besonderen Abschnitt angekommen. Ein Abschnitt, der es verdient hat einmal inne zu halten und ihm zu danken.
Vor ein paar Tagen habe ich eine innere Ruhe erlebt, die ich mit Worten nicht zu beschreiben vermag. Ein Gefühl, dass alles gut ist, genauso wie es gekommen ist. Alles ist richtig, genauso wie es ist. Trotz meines Status „alleinerziehend“ und „behindertes Kind“. Vielleicht gerade deshalb. Man könnte es mit einem Puzzle vergleichen. Vor ein paar Jahren, als ich mit unserem Puzzle begonnen habe, hat nichts – gar nichts – zusammengepasst. Diese Teile können nicht zusammengehören! Betrug! Das Puzzle tausche ich sofort wieder um – waren meine änfanglichen Gedanken. Kein Umtausch sondern Fingerspitzengefühl, Ausdauer und jede Menge Vertrauen war gefragt. Heute, nach ein paar Jahren und jede Menge Puzzleerfahrung, ist aus den anfänglichen zufällig zusammengewürfelten einzelnen Teilen ein komplettes einzigartiges Bild entstanden. Ende gut, alles gut? Nein. Darum geht es gar nicht. In vielen Momenten wünsche ich mir etwas mehr Leichtigkeit, Verständnis, gesellschaftliche Unterstützung und Toleranz. Ich bin oft erschlagen, erschöpft, psychisch und physisch am Ende – aber trotzdem unendlich glücklich und zufrieden. Passt das zusammen? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Was ich weiß: Es ist mein Gefühl. Mein Empfinden. Für einige Menschen mag das aufgesetzt, überzogen, lächerlich und doch ganz eindeutig nach einem Rosemunde-Pilcher-Super-Happy End-Roman klingen und das ist in Ordnung.
Anstatt zu schauen was ich nicht habe, habe ich vor ein paar Tagen realisiert wie viel wir besitzen und ein Gedanke keimte in mir auf: Sei doch einfach mal dankbar, für die vielen Dinge, die Dir tagtäglich als selbstverständlich erscheinen. Und das sind einige.
Dankbar für einen Busfahrer, der Evan (wenn er nach einer aufregenden Nacht nicht aufstehen mag) direkt aus seinem Bett abholt und ihn in den Bus trägt.
Dankbar für Großeltern, die ihr Leben zurückstellen, um uns zu helfen.
Dankbar für Ärzte, Schwestern und Pflegern, die Evans ganzes kaputtes Herz in ein funktionstüchtiges halbes Herz umgebaut haben.
Dankbar für Freunde, die uns nicht die Freundschaft kündigen, wenn mal wieder etwas zu Bruch geht.
Dankbar für Ärzte und Therapeuten, die zusammen mit Evan Lieder auf einer Klobürste und abwechselnd auf einer Bratpfanne spielen und ihn ganz nebenbei therapieren und behandeln.
Dankbar für ein Umfeld, Menschen, Freunde und Familie, die ehrlich und respektvoll mit Evan und mir umgehen.
Dankbar für Eltern anderer Kinder, die Evan nicht übergehen und ihn zu sich oder einem Kindergeburtstag einladen.
Dankbar für Gemeindemitglieder, die fragen wie es uns geht und mit einer ehrlichen Antwort umgehen können.
Dankbar für stille und aktive Leser und „Kommentatoren“ meines Blogs.
Dankbar für Evi und Elisabeth, die Evan so liebevoll in ihr Herz geschlossen haben, dass ich ohne Bedenken zwei Mal die Woche die Möglichkeit habe, das zu machen, was ich möchte.
Dankbar für Freunde, die seit Jahren die einsamsten Waldspaziergänge, die entlegensten Spielplätzen und die kuriosesten Schwimmuhrzeiten in Kauf nehmen, damit wir dabei sein können.
Dankbar für Nachbarn, die Evan nicht übergehen und ihn ganz selbstverständlich grüßen und sich mit ihm unterhalten, obwohl sie keine Antwort bekommen.
Dankbar für Reiterfreunde, die sich nach meinen Uhrzeiten richten, damit ich dabei sein kann.
Dankbar für freundliche Krankenkassenmitarbeiter, die mich beraten und zurückrufen und mir (manchmal) wertvolle Tipps geben.
Dankbar für wundervolle Erzieherinnen, denen ich Evan auch mit einem kleinen Schnupfen ruhigen Gewissens anvertrauen kann.
Dankbar für Kassiererinnen, die Evan bei Laune halten, während ich meinen Einkauf verstauen kann.
Dankbar für Hundebesitzer, die uns bis zu unserem Auto begleiten, obwohl sie in die andere Richtung müssen.
Dankbar, dass aus zufälligen Weggefährten, tiefe und kostbare Freundschaften entstanden sind.
Dankbar für Arbeitskollegen, die Verständnis haben, wenn ich mal nicht funktioniere.
Dankbar für das ehrenamtliche Engagement vieler lieber Menschen.
Dankbar für Freunde, die immer wieder anrufen, obwohl ich mich nicht melde.
Dankbar für ein zu Hause auf Zeit.
Dankbar für einen wundervollen, einzigartigen, besonderen, kreativen und lebenshungrigen Sohn
Als ich dabei war, meine Dankbarkeit in Worte auszudrücken, sind mir immer mehr Dinge eingefallen, für die ich unendlich dankbar bin und mir fiel auf, wie einfach es ist, diese Dinge zu benennen.
Ich möchte mit diesem Artikel nicht ausdrücken, dass man immer sofort für alles dankbar sein muss und alles still und dankend annehmen sollte. Nein, man darf, man muss, sich beschweren, kritisierten, belächeln, motzen, meckern, bemängeln und zweifeln. Hin und wieder tut es einfach gut, kurz inne zu halten und sich auf das zu konzentrieren was man hat, um für einen (kurzen) Moment zu vergessen was einem fehlt. Ich habe im Laufe der Jahre gemerkt, dass es nicht auf die äußeren Umstände ankommt, sondern wie ich damit umgehe. Unser Leben kommt eher einer Tragikomödie als einem Rosemunde Pilcher Film gleich, eher einem Bergaufstieg als einem Strandsparziergang – und wenn schon. Nach ein paar Jahren und einigen Blasen habe ich meine Flipflops gegen ein paar Bergschuhe eingetauscht.
Möchte ich in einem Rosemunde Pilcher Film leben? Vielleicht. Manchmal. Aber definitiv ohne meine Jugendliebe, die weder äußerst attraktiv noch adelig oder reich ist.
Alleinerziehende, sympathische, äußerst chaotische, laute Frau, schafft es endlich ein wenig Geld zur Seite zu legen, um sich und ihrem äußerst lebhaften, lebenshungrigen, geräuschvollen kleinen Michel, eine baufällige, ruinenhafte, charmante und liebenswerte Villa Kunterbunt inklusive Hund, Katze, Pferd zu ersteigern. Während der Junge auf dem Dach auf einer Klobürste Old Mc Donald Had a Farm spielt, versucht die Frau mit viel Kreativität das Haus und den Garten in Form zu bringen. So lebten sie bis ans Ende ihrer Tage. Erschöpft, verrückt aber glücklich.
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