Autismus. Jedem scheint der Begriff geläufig zu sein. Autismus, das ist doch…. Nee, das bedeutet doch…. Jeder kennt den Ausdruck und noch viel wichtiger, jeder weiß es besser. Welche tägliche Herausforderung Autismus mit sich bringt, ist vielen nicht bewusst oder wird (gerne) unterschätzt. Entweder man ist hochintelligent, verfügt gleich über mehrere Inselbegabungen, oder man lebt isoliert, spricht kaum oder gar nicht und starrt die meiste Zeit an die Decke. Dazwischen? Da scheint es nicht viel zu geben. Vielleicht mal ein „Auf mich wirkt er eigentlich ganz normal“ oder „Ich bin auch oft vom Leben überfordert“.
Autismus. In letzter Zeit höre ich das Wort immer öfter. Ist das gut? Das kommt drauf an. Wenn ich Menschen erzähle, dass mein Sohn Autist ist, bekomme ich immer häufiger zu hören: Ah, Autist. Dein Sohn hat doch kein Autismus, Du erziehst ihn nur nicht richtig. Ah, okay. Vielen Dank! Eine Diagnose. Gestellt in nur wenigen Minuten. Sekunden. Autismus scheint für viele Menschen zu einer neuen Modekrankheit geworden zu sein. Das Kind verhält sich nicht angemessen, dank der fehlenden Erziehung (in meinem Falle kommt das Fehlen der männlichen Bezugsperson noch erschwerend hinzu) und schon ist es ein Autist. Früher war es ADHS. Heute ist es Autismus. Diese Denkweise kursiert leider in vielen Köpfen. Einige dieser Köpfe kreisen immer mal wieder um Evan und mich herum. Wir neigen in diesen Momenten dazu, Bowling oder Kegeln zu spielen. Sehr gut, mein tapferes Schneiderlein. Gleich 7 auf einen Streich.
Ein anderes Kuriosum, welches ich in letzter Zeit erlebe und vielseitig in der Presse verfolge ist, das Autismus zu einer Art popkulturellen Phänomen geworden ist. Auf einmal ist jeder ein wenig autistisch. Möchte ein wenig autistisch sein. Autismus scheint in zu sein. Modern. Alle Autisten, zumindest Asperger Autisten, sind Software Genies oder Geeks. (Und plötzlich wollen alle Autisten sein, die Welt). Es gibt zahlreiche Online Tests, in denen man sich mal eben kurz auf Autismus testen kann. Öffentliche Selbstdiagnosen. Das Ergebnis – die Enddiagnose – erhält man dann am Ende des Testes. Nach nur 20 Minuten. Ach schade, ich bin doch kein Genie. Ich bin nur langweilig. Mist! Dabei handelt es sich um sehr präzise Ja und Nein Fragen wie “Ich bin lieber alleine als unter Menschen“ oder “Ich lege Wert auf Details“. Sehr aufschlussreiche und vielversprechende Fragen also. Ich hätte mir unsere Diagnostikprozedur – von 2 Jahren – sparen können und mir stattdessen einfach 20 Minuten Zeit nehmen sollen. 20 Minuten=2 Jahre=Scheiße, zu spät! Worüber ich jetzt ironisch philosophiere macht mich in Wahrheit traurig und wütend. Autismus wird verharmlost und nicht ernst genommen. Natürlich erfährt Autismus dadurch eine größere Aufmerksamkeit, ob dies allerdings zu einem besserem Verständnis und einem besseren Miteinander führt, ist fraglich.
In der Presse lese ich fast täglich einen neuen Sensationsartikel: Autismus, endlich heilbar. Alle scheinen sich auf aktuelle Studien berufen zu können. Man wird überflutet und verliert in dieser Informationsflut schnell den Überblick. Verzweifelte Eltern – ich schließe mich mit ein – klammern sich oft an den noch so kleinsten Strohhalm. Versprechen sich Besserung. Gefährliche und menschenunwürdige Therapiemethoden wie MMS oder ABA versprechen angebliche Besserung oder sogar Heilung. Heilung? Diese kann bekanntlich nur vollzogen werden, wenn eine Krankheit vorliegt. Ein Schnupfen (eine Krankheit) kann geheilt werden. Autismus? Ist keine Krankheit und kann daher auch nicht geheilt werden. Autistische Kinder sind nicht krank, denn Autismus ist weder heilbar noch ansteckend.
Autismus. Was in einigen Artikeln oder TV Serien belächelnd und komisch dargestellt wird, ist unser Leben. Unsere Realität. Autismus ist nur eine Diagnose. Es bestimmt unser Leben. Von morgens bis abends. Und in der Nacht. Für uns eine tägliche Herausforderung. Für mich Kraftsport. Ein permanentes „Auf der Hut sein“. Gewappnet sein. Mal eben kurz oder nur noch mal schnell gibt es bei uns nicht. Alles wird minuziös geplant und durchdacht. Alle bösen Überraschungen eliminiert – zumindest 2 von 10. Bevor ich das Auto parke wird automatisch die Umgebung gescannt. Gefahren werden umgangen. Leider bin ich weder Catwomen noch Superwomen und kann nicht alle Gegner, getarnt als Gefahren oder nicht stimmige Umstände, eliminieren. Eine für nicht Autisten nicht erwähnenswerte Kleinigkeit kann für Evan die Welt bedeuten und führt zu einem totalen Zusammenbruch, der gerne mit einem Trotzanfall verwechselt wird und mit einem beiläufigen Kopfschütteln abgetan wird. Von einem Kind, das im Rollstuhl sitzt, würde man nie erwarten, dass es laufen soll. Dieses auszusprechen wäre grauenvoll, völlig unangemessen, schlichtweg nicht akzeptabel. Warum also wird genau das immer und immer wieder von Evan verlangt bzw. erwartet? Ich würde mir wünschen, dass Evan als das wahrgenommen wird was er ist: Ein kleiner Junge, der Autist ist. Der weder immerwährende Trotzanfälle noch gemein gefährlich ist oder über ein hochgradiges Aggressionspotenzial verfügt.
Ich bin mir ganz sicher: Wenn Evan sprechen könnte, würde er mich argwöhnisch und äußerst skeptisch anschauen und sagen: Was hast Du denn? Ich bin total normal. Du bist komisch. Aber Mama, mach Dir keine Sorgen. Es ist okay anders zu sein. Evan würde noch kurz den Kopf schütteln und dann – mit seiner Gitarre in der Hand – weiterlaufen. Seinem Kikanichen und dem grünen Gummibärchen hinterher. Abenteuer erleben. Viel Spaß, kleiner Michel.
Autismus, das ist doch… Ich mag und kann den Satz nicht zu Ende bringen. Wir Menschen denken gerne in Schubladen. Wir fühlen uns wohl und sicher, wenn wir pauschalisieren können. Menschen oder Gegebenheiten, bestimmten Gruppen zuordnen können. Kennst Du den Fall, kennst Du alle. Viele Mitmenschen fragen mich immer wieder, ob ich mir ein gesundes Kind wünschen würde. Natürlich würde ich mich wünschen, dass Evan gesund ist. Sein halbes Herz über Nacht zu einem ganzen wird. Es gibt Tage – Momente – da schließe ich die Augen und träume davon mich einfach mal so – ganz spontan – im Eiskaffee mit Freunden zu treffen, inklusive Evan. An diesen bestimmten Tagen wünsche ich mir die alltäglichen Herausforderungen nicht ständig in kleine liebevolle Abenteuer umwandeln zu müssen. Aber mir Evan anders vorzustellen, das kann und will ich nicht. Der Autismus gehört zu Evan. Für mich ist es seine Wesensart. Fazit? Es gibt weder „den Autisten“, noch den „Nicht-Autisten“. Und das ist auch gut so. Einzigartig. Unvergleichlich.
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