Rabenmutter.
Als ich diesen Blog angefangen habe, habe ich mir eine Bedingung gestellt. Bleib ehrlich und authentisch. Berichte auch über die Seiten, die das Muttersein mit sich führt, die unbequem sind. Die vielleicht nicht alle Menschen nachvollziehen können. Aber bleib ehrlich. Bleib bei Dir. Dieser Artikel ist eine Mutprobe. Meine eigene. Über Gefühle und Empfindungen zu sprechen, die ich eigentlich wegschließen möchte. Dieser Artikel soll weder bewerten noch verurteilen, es sind ganz alleine meine Empfindungen.
Darf Muttersein dazu benutzt werden, um seine eigenen Träume zu erfüllen? Auf diese Frage bin ich diese Woche gestoßen und ich musste lange darüber nachdenken. Natürlich würde ich, wenn ich offen auf der Straße von einem Fernsehteam mit einer riesigen Kamera in der Hand, gefragt werde: Und gnädige Frau, wie sehen Sie das? Darf Muttersein benutzt werden, um ihre Träume zu erfüllen?“ ganz vehement und völlig sicher antworten: Natürlich nicht. Was für eine unverschämte Frage! Erst kommt mein Kind und dann komme ich. Auf dem Nachhauseweg allerdings würden mir schon die ersten Zweifel kommen. Spätestens zu Hause, müsste ich ehrlich zugeben: Du hast gelogen. Öffentlich gelogen. Meine Antwort war die Antwort, die einige – die Mehrheit – von mir hören wollte. Erst das Kind, dann ich. So wie es verlangt wird. So wie eine gute Mutter es eben macht. Sich immer und immer wieder hinten anstellt. Von der eigenen Karriere mal ganz abgesehen. Benutze ich das Muttersein, um meine Träume zu erfüllen? Ich denke schon, ja. Zumindest ein Teil von mir macht das. Manchmal.
Evan braucht Aktionen, wie Kekse backen, Laterne laufen oder Weihnachten feiern, nicht. Sein Geburtstag ist ein Tag wie jeder andere für ihn. Aber nicht für mich. Wir laufen Laterne, wir backen Kekse und wir feiern Weihnachten. Immer in der Hoffnung, dass es ihm Spaß macht oder in der Zukunft Spaß machen wird (auf unserem Video macht ihm Kekse backen definitiv Spaß). Letztes Jahr habe ich sogar seinen Geburtstag gefeiert. Evan hat seine Gäste geschubst und die Geschenke in die Ecke geschmissen (nachdem sie ausgepackt waren, hat er ihnen mehr Beachtung geschenkt). Er hat diesen Tag nicht gebraucht. Ist das egoistisch? Ich denke schon. Habe ich das Muttersein benutzt, um mein Traum zu erfüllen? Ich glaube schon. In diesem Moment habe ich meine Bedürfnisse vor Evans gestellt. An seinem datierten, richtigen, Ehrentag haben wir den Tag natürlich nach seinen Bedürfnissen strukturiert. Nur mit seinen Großeltern und mir. Aber an diesem anderen besagten Tag haben wir den Tag nach meinen Vorstellungen gestaltet. Bitte keinen Schrecken bekommen. Ich habe Evan nicht gezwungen mit 100 Kindern, Lasershow und voller Musiklautstärke einen Tag auf 10 Quadratmetern zu verbringen. Wir haben einen Tag auf einem Bauernhof mit viel Platz und Rückzugsmöglichkeiten verbracht. Er hat sehr viel gelacht und hatte seinen Spaß auch beim Schubsen und Geschenkewegschmeißen. Evan schubst ständig. Auch wenn wir alleine sind und er nicht überfordert ist. Das ist seine Art zu kommunizieren. Dadurch möchte ich die Tatsache, dass ich meine Bedürfnisse vor Evans Bedürfnisse gestellt habe, aber nicht minimieren.
Bevor Evan auf der Welt war, hatte ich ein genaues Bild vom Muttersein. Und von meinen Träumen, die das Muttersein mit sich bringt. Ich habe mir vorgestellt, wie ich mit meinem Kind zusammen Weihnachten feier. Wie wir gemeinsam „Oh Tannenbaum“ singen und den Weihnachtsbaum dabei schmücken. Ich habe mich mit meinem Kind im Garten gesehen wie wir zusammen die Ostereier suchen, die wir gemeinsam in den Tagen zuvor mühsam verziert haben. Ich habe uns auf der Couch sitzen sehen wie wir die schönsten Walt Disney Filme schauen und dabei aus Leibeskräften mitsingen und im Duett tanzen. All das waren meine Wünsche und Vorstellungen. Evan hat mir gezeigt, dass es auch anders geht. Anstatt Walt Disney Lieder zu singen, musiziere ich auf einer Klobürste und Evan auf einer Bratpfanne dazu summen wir „Old Mc Donald Had a Farm“, seit circa 2 Jahren. Anstatt gemeinsam in Garten die Ostereier zu suchen, schmeißen wir unsere (meine) bunt bemalten Eier gegen die Hauswand. Das ist in Ordnung. Das ist auch schön. Anders schön. Aber trotz der wertschätzenden, reinen und ehrlichen Schönheit, die ich in all Evans Tätigkeiten sehe, ist dort immer noch ein Raum. Dieser Raum ist meistens verschlossen, mit dem dicksten Vorhängeschloss der Welt. Aber er ist da. Auch wenn ich versuche ihn zu verstecken. Fast wie ein Kind, dass sich die Augen zuhält und denkt: Wie cool, jetzt sieht mich keiner mehr! Ätschibätsch, ich sehe Dich. Er ist immer noch da. Der Raum gefüllt mit meinen Wünschen und Träumen. Mit meinen Vorstellung von Muttersein. Mögen sie auch noch so absurd und utopisch sein, sie sind da und bleiben auch dort.
Nach einigen Jahren totaler Selbstauflösung habe ich für mich entschieden, dass es besser ist, diesen Raum nicht zu verschließen. Ihn zu akzeptieren und ihn für das zu nehmen was er ist. Ein Teil von mir. Nur weil ich mir wünsche, dass er nicht da ist, verschwindet er nicht wieder. Ganz im Gegenteil. Er wird größer. Bevor ich Mutter geworden bin, war ich eine eigenständige Person mit Wünschen und Bedürfnissen. Ich habe gerne ausgeschlafen, ausgiebige Shoppingtouren gemacht und mir die Nächte um die Ohren geschlagen. Nicht mit Babygeschrei sondern mit Tanzen. Natürlich verschieben sich diese Bedürfnisse mit der Geburt eines Kindes. Das passiert ganz von alleine. Kompromisse, die ich früher nie eingegangen wäre, nehme ich jetzt liebend in Kauf. Ich würde alles, wirklich alles, für Evan machen und geben. Ganz selbstlos. Evan ist meine Nummer eins. Mein ganz eigener Hauptgewinn. Sogar mein Herz würde ich Evan schenken, damit sein halbes Herz zu einem Ganzen wird. Nur könnte ich dann nicht mehr für ihn sorgen. Genau das ist mir passiert. Bildlich. Ich habe alles gegeben und mich verloren. Ist das gesund? Nein. Eine liebe Freundin sagte einmal zu mir: Marcella, zu einer Familie gehören mehr als eine Person. Für mich war dieser Satz wie ein Befreiungsschlag. Ich würde Evan nie in Situationen bringen, die er nicht aushalten oder nur unter Schmerzen ertragen kann. Nie etwas machen, was sein Kindeswohl gefährdet. Dann verzichte ich. Ganz klar. Keine Diskussion. Aber nicht nur Evan ist Teil unserer Familie, sondern auch ich. Wir beide. Ich habe Bedürfnisse, die manchmal nicht mit Evans Erkrankung über einpassen. Ich vor der Entscheidung stehe, Evan oder ich. Wer steckt jetzt zurück? Es gibt Momente, da fällt es mir schwer selbstlos zu sein. Immer Rücksicht zu nehmen und zu verzichten. Immer verbunden mit diesen einem Gedanken im Hinterkopf: Ist das zu viel für ihn? Überfordere ich Evan damit? In diesen bestimmten Situationen, wenn man ihm am wenigsten braucht, klopft der Herzfehler an meine Tür. Wie ein ungebetener Gast, der es sich ohne Einladung bei mir gemütlichen machen möchte. Wenn ich sehr unfreundlich bin, geht er meistens wieder. Ansonsten verlangt er einen Kaffee nach dem anderen. Aber irgendwie geht er nie ganz. Wenn mein Kind eine lebensbedrohliche Krankheit hat, muss ich dann nicht jeden Augenblick mit dem Kind verbringen und alles und in jeder Hinsicht auf das Kind abstimmen?
Evan ist kein Autist, der in der Ecke sitzt und sich ständig die Ohren zuhält, weil ihm alles zu viel und zu laut ist (dieses Vorstellungsbild eines Autisten bekomme ich immer wieder zu hören – Nein, es gibt nicht den Autisten.) Evan ist ein sehr unternehmungslustiger kleiner Junge, der ständig Input braucht und einfordert. Der sich seine Jacke holt und mich mit seinen großen blauen Augen anschaut: Welches Abenteuer erleben wir heute Mama? Der die weite Welt kennenlernen und Wagnisse erleben möchte. Evan liebt Jahrmärkte und Vergnügungsparks. Sein absolutes Lieblingskarussel in unserem kleinen Vergnügungspark, in dem wir schon persönlich begrüßt werden, ist das Wolkenkarussel. In dem kann er stundenlang sitzen und sich die Welt von oben ansehen. Ganz nach dem Motto:
Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein.
Alle Ängste, alle Sorgen, sagt man,
Blieben darunter verborgen und dann
Würde, was uns groß und wichtig erscheint,
Plötzlich nichtig und klein (Reinhard Mey, aus Über den Wolken).
Dieses Motto trifft auf jeden Fall auf uns zu. Von dort oben sieht die Welt grenzenlos aus. All unsere Probleme werden plötzlich winzig und klein. Vielleicht sollten wir einfach in unsere Wolke einziehen? In unsere Lieblingswolke – die pinke Wolke.
So wunderschön und einzigartig diese Ausflüge auch sind, für mich sind sie mit einer Menge Stress verbunden. Mit physischer und psychischer Kraft. Die gesellschaftliche Welt, von der Evan so gerne ein Teil wäre, mit seiner eigenen wunderbaren Welt in Einklang zu bringen, ist nicht leicht. Harte Arbeit. Überall lauern alltägliche „Gefahren“, die ich mühevoll zu umgehen versuche oder in kleine Abenteuer verwandel. Ein Stück heile und unbeschwerte Kindheit zu vermitteln. Evan nicht das Gefühl zu geben, sich ständig fehlzuverhalten oder nicht richtig zu sein. Es liegt nicht an Dir kleiner Mann sondern an den Strukturen. Mir ist bewusst, dass ich Evan nicht vor allen Enttäuschungen oder jedem Unglück bewahren kann aber ich gebe mein Möglichstes, dass dieser kleine Junge unbeschwert und glücklich groß werden kann und zu einem wundervollen und einzigartigen Menschen heranwächst. Das wirst Du, Evan! Da bin ich mir ganz sicher.
Evans Diagnose bestimmt unser Leben zu 99%, denn es ist unser Leben. Was bleibt übrig? Für mich? 1%. Das ist nicht viel. 1% mal nicht selbstlos sein. Mal keine Rücksicht nehmen zu müssen. Nicht zu verzichten. Es gibt Momente, da sehne ich mich wieder nach meinem Full Time Job und würde die Nächte wie früher gerne tanzend zum Tag machen – dank meiner Eltern kann ich das zum Glück auch immer mal wieder. Zudem habe ich 2 tolle Damen, die mittlerweile zu Freundinnen und zu einem Teil unserer kleinen Welt geworden sind, die uns tatkräftig unterstützen. An diesen Tagen kann ich in Ruhe einkaufen – Lebensmittel versteht sich – oder zum Arzt gehen. Früher hätte ich mir selber den Vogel gezeigt und lauthals gelacht: In Ruhe zum Arzt und Lebensmittel einkaufen gehen?! Wie komisch ist das denn? Heute lache ich nicht mehr. Manchmal vielleicht. Wenn ich mich selber beim Einkaufen beobachte und merke, dass ich meinen Lebensmitteleinkauf zelebriere wie andere Frauen ihre Shopping Touren. Oh, gibt es die Tomate auch in meiner Größe? Äh, Entschuldigung. Ich meine auch etwas größer? Spätestens dann merke ich, dass ich verrückt werde.
Rabenmutter. Das bin ich. Immer mal wieder. Bewusst. Denn ich glaube ich habe nur die Kraft mein unzerstörbares – mit etlichen Flicken – massives Mutterschild und unsere kleine Welt aufrechtzuerhalten, wenn ich ab und zu eine Rabenmutter bin. Egoistisch bin. Einen Tag – eher ein paar Stunden – nach meinen Bedürfnissen lebe. Sich ausschließlich um sein Kind zu kümmern, ist meinem Gefühl nach egoistisch, denn ich zeige meinem Kind damit, dass ich mich und meine Herzenswünsche nicht wichtig nehme und dass ist kein gutes Vorbild. Auch wenn in Deutschland das Wort „Rabenmutter“ ein Synonym für schlechte Mutter ist, mag ich das Wort (Interessant: Rabenvater gibt es nicht, nur Rabeneltern) – Rein biologisch ist es ein Kompliment, wenn man als Rabenmutter bezeichnet wird. Rabenmütter kümmern sich nämlich geradzu vorbildlich um ihre Rabenkinder. – Ich stehe dazu immer mal wieder eine Rabenmutter zu sein. Mich schlafend zu stellen, obwohl ich schon längst wach bin. Evan noch vor dem Abendessen einen Lolly zu geben, um kurzzeitig meine Ruhe zu haben. Evan seinen DVD Player mit seiner Lieblings-DVD von Rolf Zuckowski anzumachen, nur damit ich stundenlang mit einer Freundin telefonieren kann – okay, stundenlang ist an dieser Stelle etwas übertrieben. Und manchmal einen Kindergeburtstag zu feiern, den Evan nicht braucht.
Natürlich sind Kinder nicht dafür verantwortlich, uns Erwachsene glücklich zu machen. Dafür müssen wir schon selber sorgen. Und natürlich darf ich meine Erwartungen nicht auf Evan projizieren und mein Muttersein dafür nutzen, um meine Träume zu erfüllen. Aber ich mache es trotzdem. Manchmal. Und immer mal wieder. Ist das schlecht? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass es menschlich ist.
Auf alle Rabenmütter. Rabenväter. Und alle Rabenkinder.
13 Kommentare