Habt ihr Lust mit ins Eiskaffee zu kommen? Ja, sehr gerne. Das wünsche ich mir. Nein, leider können wir nicht. Das sage ich. Vielleicht in einem anderen Leben. Das denke ich. Wenn uns Freunde/Bekannte mit gesunden Kindern fragen, ob wir sie begleiten möchten, ins Kino, zu Veranstaltungen, zum Fasching, zum Campingausflug, ins Kaffee oder einfach mal zu Ikea, dann ist meine Antwort meistens Nein. In meinem Kopf sammeln sich die Gedanken und festigen sich immer wieder zu einer Aussage: Vielleicht in einem anderen Leben. (Ich stelle mir vor, wie die Reaktionen wären, wenn diese Aussage nicht nur in meinem Kopf bleiben würde, sondern laut und ganz überzeugend ausgesprochen wird: Nein, danke der Nachfrage aber heute können wir leider nicht. Vielleicht in einem anderen Leben? Wie bitte? Äh, okay…) Ich muss an dieser Stelle betonen, dass Evan und ich wirklich tolle Freude haben. Die einiges für uns in Kauf nehmen, damit wir dabei sein können. Einsame Waldspaziergänge, die entlegenste Spielplätze, die kuriosesten Schwimmuhrzeiten, geopferte Bratpfannen und Fliegenklatschen, stundenlange Staubsaugergeräusche – das sind noch die harmlosesten Opfer. Ein Dankeschön an dieser Stelle.
Mit einem behinderten Kind ein intaktes soziales Leben zu führen, ist sehr schwer. Manchmal fast unmöglich. Ist zermürbend. Kostet unendlich viel Kraft. So ergeht es mir zumindest. Ich bin ein sehr sozialer Mensch und habe gerne Menschen um mich herum. Verabrede mich gerne. Ich liebe es Neues zu entdecken und kann mich für neue und interessante Eindrücke total begeistern. Diese Eigenschaften Evan mit auf den Weg zu geben, war mein größter Wunsch. Andere Länder zu bereisen, Veranstaltungen oder Museen zu besuchen. Bei unserem ersten und bis jetzt letzten Museumsbesuch hat Evan einem Tierexponat den Schwanz abgerissen. Nachdem ich den Schwanz provisorisch wieder angebracht habe, sind wir geflüchtet. Im Flüchten sind wir spitzenmäßig. Evan und ich könnten im Handumdrehen eine Bank ausrauben. Wir würden schon wieder weg sein, bevor man überhaupt etwas vermisst. Vielleicht unser zweites Standbein? Frau mit Kleinkind getarnt als Superman und Superwomen, bewaffnet mit Klobürsten und Bratpfannen, überfallen norddeutsche Banken.
Das kann man doch keinen zumuten! Mit das meinte eine Bekannte Evans Verhalten. Ich denke immer mal wieder über diese Aussage nach. Ist Evans Verhalten eine Zumutung? Dürfen wir nicht unter Leute gehen oder an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen? Ich habe versucht mich dieser Frage ganz wertfrei zu stellen. Kann ich anderen Menschen Evans Verhalten zumuten? Evan ist laut – sehr laut- , er ist wild – grenzenlos wild, er ist impulsiv – unbeherrscht impulsiv. Wenn wir einen Raum betreten wird es schlagartig laut und gefühlt liegen dann alle Blicke auf uns. Es ist so ähnlich wie in einem Wilden Westen Film. Der Sheriff betritt den Saloon und abrupt ruhen alle Blicke auf ihn. Die Bösewichte merken sofort, dass er nicht zu ihnen gehört. Nicht zu ihresgleichen. So ähnlich ergeht es mir und Evan, wenn wir ein Café betreten. (Das bedeutet nicht, dass Evan und ich die guten und die anderen Café Besucher die schlechten sind – ist nur ein anschauliches Beispiel.)
Inklusion. An dieses Thema denke ich, wenn ich unser soziales Leben vor Augen habe. Inklusion. Wie schön. Ein schöner Traum. Noch. Für uns zumindest. Evan und ich gehen in Behindertencafés. Besuchen Veranstaltungen von und für Behinderte. Fahren zu den entlegensten Spielplätzen. Suchen einsame Waldwege. Leider gibt es Ikea noch nicht in unserer Version. Wir wären dort definitiv Stammkunden! In Deutschland gibt es Altenheime für ältere Menschen. Psychiatrien für psychisch kranke Menschen und Behindertenheime für behinderte Menschen. Jeder scheint in Gruppen aufgeteilt zu sein und bleibt unter seinesgleichen. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bin für Inklusion. Ein richtiger Fan. Falls die Inklusion für das Amt des Präsidenten kandidieren würde, würden Evan und ich in der ersten Reihe sitzen und ihr/ihm zujubeln. Wir hätten riesige Schilder: Go Inklusion, Go! Evan hätte bestimmt seine Gitarre dabei und würde der Inklusion einen Wahlkampfsong widmen, der würde dann so ähnlich wie Old Mc Donald Had a Farm klingen, aber egal! Die Geste zählt doch bekanntlich. Solange Inklusion nur in der Theorie gut klingt, so ähnlich wie eine sehr gut durchdachte Wahlkampfkampagne, bleibt es leider nur eine Theorie. Inklusion fängt in den Köpfen der Menschen an. Wer von vornherein nicht ausgegrenzt wird, der muss nicht erst integriert werden.
Ich wünsche mir Veranstaltungen bei denen wir ausdrücklich erwünscht sind und Evan auf seine Art teilnehmen kann. Ich wünsche mir Kinos oder Theatervorstellungen, in denen einfach fröhlich weiter zugeschaut wird, auch wenn Evan im Gang herumtanzt oder das Theaterstück auf seiner Gitarre begleitet. Wir wünschen uns uneingeschränkt am Leben teilzunehmen. Ist das utopisch oder sogar unverschämt dieses zu verlangen? Wenn es nach der Inklusion geht, dann nicht:
„Inklusion heißt, dass Menschen mit Behinderung ihr Leben nicht mehr an vorhandene Strukturen anpassen müssen, sondern dass die Gesellschaft Strukturen schafft, die jedem Menschen – auch den Menschen mit Behinderung – ermöglichen, von Anfang an ein wertvoller Teil der Gesellschaft zu sein.“ (Quelle: Bayrisches Staatsministerium für Arbeit und Soziales, Familie und Integration).
Ist Evans Verhalten eine Zumutung? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Vielleicht ist es das für manche Menschen. Aber trotzdem haben wir den Wunsch am Leben teilzunehmen. Natürlich muss auch Evan sich in der Gesellschaft an Grenzen und gewisse Regeln halten. Aber er wird sich nie gesellschaftskonform und den Erwartungen anderen entsprechend verhalten. Der Autismus ist nicht nur eine Diagnose. Es ist unser Leben. Ich kann diesen Satz nicht oft genug betonen. In einer Welt zu Recht zukommen, oder sogar zu überleben, die nicht autistengerecht ist, ist eine tägliche Anstrengung und Herausforderung. Für Evan und für mich. Wir stellen uns dieser Anstrengung. Jeden Tag aufs Neue. Wir gehen schwimmen, meistens, wenn das Bad leer ist – aber wir gehen. Wir verabreden uns. Wir fahren in den Urlaub. Gehen ins Abenteuerland, eine Stunde vor Schließzeit. Wir gehen zu Theatervorstellungen – in der letzten Reihe damit wir schnell und unerkannt flüchten können. Nach manchen Erlebnissen denke ich, das mache ich nie wieder! Um nach ein paar Tagen festzustellen, es doch wieder ausprobieren zu wollen. Evan und ich lieben das Leben und möchten Teil dieser Gesellschaft sein. Wir möchten uns nicht zu Hause einschließen. Ich bin sehr dankbar, dass ich noch die Kraft besitze mich und Evan durch diese Erlebnisse zu tragen. Negative Erfahrungen dank meines undurchdringlichen – (meistens)- Mutterschild von Evan fernzuhalten, damit Evan lächelnd durchs Leben spazieren kann und weiter an das Gute im Leben und in den Menschen glaubt. Ich möchte, dass seine kleine unabhängige Seele in Ruhe und voller Vertrauen wachsen kann. Ich muss zugeben, dass dieses Mutterschild schon sehr gelitten hat und an einigen Stellen nur noch aus Gewohnheit hält. Aber es hält. Noch.
Auch wenn Evan in seinem Leben schon einige negative Erfahrungen, erleben musste, hat dieser wundervolle Junge die Gabe, liebevoll auf Menschen zuzugehen, sie einfach an die Hand zu nehmen und schlichtweg an das Gute in jedem Menschen zu glauben. Ganz ohne Vorbehalte. Egal welcher Abstammung, welche Behinderung oder welcher sozialen Schicht sie angehören. Ist das nicht großartig?! In solchen Momente denke ich immer, dass dieser kleine Junge mir und vielen anderen so viel voraus hat. Evan lebt Inklusion.
Ich glaube auch Inklusion hat ihre Grenzen aber trotzdem halten Evan und ich fest an einer Welt ohne Schubladen – Kompromiss: Mini Schubladen. Wir glauben ganz fest daran irgendwann Ehrengäste in der ersten Reihe zu sein. In diesem Leben. Herzlich Willkommen, kleiner Evan! Idiotisch? Egal.
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