Abtreibung. Mit diesem Rat habe ich vor fast 6 Jahren die Arztpraxis und das Krankenhaus in Brüssel verlassen. Evan hatte aufgrund seiner Herzdiagnose keine große Überlebenschance. Genau gesagt hatte er gerade einmal 5%. Das war die Zahl, die der Arzt mir genannt hat. 5%. Das ist nicht viel. Da fehlen 95 zu 100% und sogar 45 zu 50%. Hätte mir früher jemand gesagt, sie haben eine 5 prozentige Chance, um das Ziel zu erreichen, hätte ich ihm/ihr direkt ins Gesicht gelacht – vielleicht sogar noch den Mittelfinger gezeigt- und wäre gegangen. Für 5% mache ich mich doch erst gar nicht auf dem Weg. Damals zumindest. An diesem besagten Tag habe ich mich an die 5% geklammert. Bildlich muss es so ausgesehen haben, als wenn ein Erwachsener sich an eine Babyluftmatratze klammert und dabei versucht nicht unterzugehen. Ziemlich lächerlich also. Ich habe sie festgehalten und nicht mehr losgelassen. Ja, fast erdrückt habe ich sie. Die 5% und die Luftmatratze.
Abtreibung. Als ich diesen Rat im Krankenhaus erhalten habe, wurde mir geraten weitere Tests durchzuführen, um herauszufinden, ob noch andere Fehlbildungen vorhanden sind. Da stand ich nun neben den Schwestern und Ärzten und diesen überdimensionalen Riesenspritzen und Hightech-Geräten. Inmitten dieser Schwestern und Ärzte habe ich mir auf einmal überlegt was ich hier eigentlich mache. Egal, ob noch weitere Fehlbildungen vorhanden sind, ich habe mich doch schon entschieden. Oder? Ich kann diesen Moment gar nicht richtig in Worte fassen aber ich habe gespürt, dass alles okay ist genauso wie es ist. Ich brauche diese zusätzlichen Untersuchungen nicht. Ich habe mich schon entschieden. Für die 5%. Das soll weder mutig noch ehrwürdig klingen. Es waren nur meine Gedanken. Nicht mehr und nicht weniger. Bildlich gesehen, habe ich es irgendwie auf diese Babyluftmatratze geschafft – im 6. Monat versteht sich – und war damit beschäftigt nicht unterzugehen.
Es wäre gelogen, wenn ich schreiben würde, dass es von diesem besagten Zeitpunkt (verlassen des Krankenhauses mit Rat zur Abtreibung) bis hin zu den wundervollen Fotos von Evan in diesem Beitrag, ein Kinderspiel gewesen ist. Und sie waren glücklich bis an ihr Lebensende. Nein. So einfach war es nicht. War es nie. Es war eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Die 5% wurden nicht mehr und die Babyluftmatratze wurde nicht größer. Sich vorzustellen sein Kind nie in den Armen zu haben, ist einfach nicht vorstellbar. Gab es Momente an denen ich gezweifelt habe? Ja. Es gab genau einen Moment. Als ich Evan nach 2 Tagen das erste Mal auf der Intensivstation gesehen habe, gab es diesen Moment. Ich habe mich so egoistisch gefühlt. Was muss der arme Junge ertragen? Nur weil Du nicht untergehen wolltest. Das waren meine Gedanken. Wird er ein lebenswertes Leben haben?
Hypoplastisches Linksherzsyndrom. Diese Diagnose verändert alles. Von heute auf morgen. Aussagen wie “Das wird schon” oder “Jetzt ist er aber doch wieder gesund” machen mich wütend, auch wenn sie gut gemeint sind. Nein, Evan ist nicht gesund. Er lebt mit einem halben Herzen. Operiert heißt nicht geheilt. HLHS ist der schwerste angeborene Herzfehler. Für diese Diagnose gibt es in Deutschland keine Behandlungspflicht, sie erlaubt immer noch eine legale Abtreibung.
Als ich heute mit Evan im Auto unterwegs war und ihn kurz im Rückspiegel beobachtet habe, kamen mir die Gedanken zu diesem Blogartikel. Er sah einfach so unendlich glücklich aus. Unbeschwert glücklich. Genau in diesem Moment musste ich an den Moment damals auf der Intensivstation zurückdenken. Wird er ein lebenswertes Leben haben? Ja, das wird er. Ja, das hat er – insofern ich überhaupt das Wort lebenswert benutzen darf.
Sich für oder gegen eine Abtreibung zu entscheiden liegt bei den Eltern und ich würde mir nie anmaßen darüber zu urteilen. Aber ich möchte Mut machen. Mut für das Leben. Mittlerweile gibt es ein Leben und eine Zukunft mit fehlender Herzkammer und Evan zeigt mir jeden Tag aufs Neue was für ein tolles und lebenswertes Leben das ist.
Wenn mich heute jemand fragen würde, ob ich Evan zu genau den gleichen Bedingungen und auch mit dem Wissen welchen Weg wir gehen müssen und welche Reise Evan antreten müsste, bekommen würde, ich würde sofort JA rufen! Jeden Tag, wenn ich Evan anschaue und die Freude und seinen Lebensmut in seinen Augen sehe weiß ich, dass es sich gelohnt hat zu kämpfen.
Manchmal scheint das Unmögliche möglich zu werden. Als Erwachsener auf einer Babyluftmatratze zu schwimmen. Von 5% Überlebenschance zu 100% reinem Glück & 100% purer Lebensfreude. Auf das Leben!
Man muss das Unmögliche versuchen, um das Mögliche zu erreichen. Herman Hesse.
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