Sorgen. Sich sorgen. Sorgen machen. Besorgt sein. Versorgen. Umsorgen. Das Wort sorgen hat bei mir eine sehr große Bedeutung. Eigentlich dreht sich alles um das Wort sorgen. Ich mache mir sehr große Sorgen. Eigentlich ständig. Ich beneide die Eltern, die das Elternsein einfach mal genießen können. Ihren Kindern einen kurzen Moment beim Spielen zuschauen und innerlich und äußerlich lächeln und sich des Lebens freuen. Dabei vielleicht noch einen Latte Macchiato trinken und voller Vorfreude den Tag feiern. Nicht, dass wir unsere Tage nicht auch feiern. Evan und ich feiern sogar sehr oft aber immer mit einem Beigeschmack. Immer mit dem Gefühl der Sorge. Ich sorge mich sehr. Hat er gerade gehustet? Wird er krank? Er bekommt doch hoffentlich keine Lungenentzündung? Schon kommen unsere ätherischen Öle zum Einsatz und das Zimmer wird aromatisiert. Dann kann er besser atmen – bilde ich mir zumindest ein. Das Erkältungsbad wird eingelassen und danach wird das Kind ordentlich mit Erkältungsbalsam eingecremt. Der Husten und Bronchialtee ist auch schon fertig als ich feststellen muss, dass Evan sich nur kurz verschluckt hat. Egal, ätherische Öle und Erkältungsbalsam schaden nicht. Manchmal komme ich mir vor als ob ich ein Computer mit vielen verschiedenen Programmen bin. Das Programm Husten sieht dann ungefähr so aus: Husten=krank=Panik=funktionieren=Teewasser aufsetzten=Bad einlassen=Zimmer aromatisieren=Erkältungsbalsam bereit legen=Entscheidung, ob zum Arzt fahren oder nicht. Von diesen Programmen gibt es etliche. Von Oh nein, seine Nase läuft, er bekommt Schnupfen bis zu er sieht heute irgendwie blauer aus.
Wenn Evan und ich spazieren oder einkaufen gehen, arbeitet mein Verstand auf Hochtouren. Während der Autofahrt zu unserem Ziel kann ich deutlich spüren wie mein Verstand wacher und wacher wird – nicht, dass er sonst nicht wach ist aber in diesen bestimmten Momenten ist er extrem wach. Mein Gedankenkarussell fängt an. Nicht in der Kosmetikabteilung vorbei, da lauern die Gitarren-Haarbürsten. Noch schnell an den Gitarren-Klobürsten vorbeirennen, gekonnt die Gefahr umgehen. Ich komme mir vor wie in einem James Bond Film – ständig auf der Flucht vor gefährlichen Gegnern wobei diese in unserem Film die Klo- und Haarbürsten sind und ich nicht über Dächer oder brennende Autos springen muss sondern wie ein aufgeschrecktes Huhn im Zick Zack Gang durch den Supermarkt laufe.
Der Spaziergang im Wald. Eine weitere Herausforderung. Gehen wir wieder den gleichen Weg? Hat sich etwas verändert? Den See dort kenne ich nicht. Oh, nein. Evan schwimmt schon. Mit Winteranzug und ohne Schwimmweste. Schnell hinterher. Spaziergang abgebrochen. Da hinten sind andere Kinder, schnell in die andere Richtung. Wo ist Evan? Schon wieder verschwunden?! Im letzten Moment sehe ich noch einen kleinen Blondschopf, der schon hinter der Lichtung verschwunden ist. Im ersten Moment denke ich noch das ist ja Michel aus Lönneberga (da wir Evan nur im schlafen die Haare schneiden können ähneln sich die Frisuren sehr) aber nein es ist ja doch Evan. Jetzt aber schnell hinterher. So ähnlich sehen unsere Spaziergänge aus. Nicht immer gleich aber dafür immer liebevoll chaotisch. Das beste Abnehmprogramm ist Evan. Es reicht schon ein Nachmittag im Wald und man ist 2 Kilos los – gefühlt sind es eher 6 Kilos! Interesse am Abnehmen? Anfragen einfach an mich! Das klingt alles sehr komisch, ist es auch. Aber es ist nicht nur komisch. Es ist ebenso körperlich wie seelisch anstrengend. Oft bin ich direkt am Limit, nur ganz kurz davor. Diese ständige Anstrengungen und Sorgen, das ständige umsorgen. Immer auf Gefahren gewappnet zu sein – ein Bein immer in der Luft und zum Absprung bereit. Ich kann Evan nicht kurz erklären warum wir die Richtung ändern oder er nicht die Haarbürste von der netten Dame an der Kasse haben kann. Für ihn bricht jedes Mal eine Welt zusammen. Er versteht es nicht. Für ihn macht es keinen Sinn. Ich bin ständig damit beschäftigt seine kleine und zerbrechliche Welt aufrechtzuerhalten. Natürlich gibt es Dinge, bei denen ich konsequent bin und in den Kampf ziehe und diesen bis zum bitterlichen Ende führe. Kämpfe sind anstrengend – das brauche ich nicht extra zu betonen. Mache ich aber trotzdem! Kämpfe sind anstrengend. Nach dem gefühlten 20. Kampf gebe ich auf. Ich ergebe mich. Ich habe verloren und bin erschlagen. Zudem immer wieder die Sorge um das Herz. Er darf sich nicht so aufregen, sein Herz. Das halbe Herz was für ein ganzes Leben reichen soll/muss.
Bitte nicht falsch verstehen. Ich möchte kein Mitleid. Ich möchte mich erklären. Erklären warum ich vielleicht manchmal kurz angebunden bin oder unentwegt gähnen muss. So zerstreut und abwesend wirke. So wirke als wäre ich nicht bei der Sache und mit meinen Gedanken ganz woanders – und das bin ich sogar sehr oft. Ich bin bei Anträgen oder bei Telefonaten, die ich nach der Arbeit noch führen muss. Ich gehe im Kopf schon die nächsten Gutachten und Therapietermine durch und versuche diese mit unserem Alltag in Verbindung zu bringen. Und nein, das liegt nicht an Dir. Ich bin gerne mit Dir zusammen und genieße Deine Gegenwart. Mal nicht über Anträge und Krankheiten nachdenken zu müssen. Ich bin Dir sogar sehr dankbar, dass ich eine Auszeit habe und schaffe es sogar kurzzeitig Sätze wie diese zu vergessen: Kannst Du nochmal kurz länger arbeiten? Ich verlange doch nicht viel sondern nur, dass Du mir kurz hilfst. Das kann doch jetzt nicht so kompliziert sein, Du sollst doch nur kurz diesen Termin umändern. Marcella, ich bitte dich. Stell dich doch nicht so an, sondern sei doch mal etwas flexibel. Nachmittags machen wir nur Termine für die Schulkinder. Sie müssen schon vormittags kommen. Dann nehmen sie sich doch einfach einen Tag frei. Das kann doch wirklich nicht so schwer sein.
Nur kurz & einfach sind Wörter, die es in meinem Leben nicht mehr gibt. Zumindest nicht einfach kurz. Ich kann nicht einfach mal eben kurz. Jeder Tag, jede Woche, jeder Monat ist genau – bis ins aller kleinste- terminiert. Da geht nicht einfach mal eben kurz. Arbeiten mit Kind ist schon eine Herausforderung. Arbeiten mit einem schwer behinderten Kind ist -fast- unmöglich. Wenn ich meine Eltern nicht hätte, die so oft einspringen und alles stehen und liegen lassen damit ich arbeiten gehen kann, wäre ich arbeitslos.
Und zu guter letzt noch die Sorge um mich. Ich sorge mich um mich. Ich bin Mutter. Und das bin ich aus Leidenschaft. Aus tiefster Seele. Ich liebe meinen Sohn. Aber ich bin noch so vieles mehr. Ich bin leidenschaftliche Reiterin, Läuferin, Bloggerin, Tänzerin, Reisende, Klavierspielerin, Gesellschafterin, Träumerin, Freundin… Wo aber bleibt die Zeit für mich? Das Organisieren von Auszeiten empfinde ich manchmal als so anstrengend, dass ich eher verzichten möchte. Aber das tue ich nicht. Und war der Tag noch so anstrengend, ich sage die Verabredung heute Abend nicht ab. Egal wie kaputt ich bin, ich fahre noch zum Pferd. Egal ob ich am 31. losfahre und am 1. schon wieder zurückkomme, ich fahre nach Brüssel und feiere dort mit meinen Freunden Silvester. Ich gebe nicht auf. Wir geben nicht auf. Jeden Tag aufs Neue kommen die Sorgen aber jeden Tag aufs Neue bejahen Evan und ich das Leben. Wir schreien es förmlich heraus: Das Leben ist schön! Evan und ich lieben das Leben, jeder auf seine ganz spezielle und besondere Weise.
Marcella & Evan
Kleine Wassertropfen, kleine Sandkörnchen bilden den mächtigsten Ozean der Welt.
Die kleinen Minuten, so bescheiden sie auch erscheinen, ergeben das Leben.
Kleine Worte der Liebe machen aus unserer Erde das Paradies. (Katja Diekmann)
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