Manchmal kommt sie ganz unverhofft. Von einem auf dem anderen Moment. Manchmal nachts in Form eines Hustens oder doch am Tag. Hat er blaue Lippen? Sind seine Fingernägel heute ein bisschen blauer? Sieht er kaputter aus? Seit 4,5 Jahren bin ich eine ganz genaue Beobachterin. Mir entgeht nichts. Nicht das kleinste Husten oder der noch so kleine Fingernagel, der heute ein bisschen blauer aussieht. Beobachten, das kann ich mittlerweile sehr gut.
Früher bin ich nie ohne meine Sab Simplex Spritzen – bis zum Anschlag gefüllt – und etlichen Milchflaschen aus dem Haus gegangen. Ich war gewappnet. Ich hatte einen regelrechten Verschleiß an Sab Simplex und Milchpulver. Im Krankenhaus wurden die Kinder immer schnell mit dem sehr süßen SapSimplex zur Ruhe gebracht, diese Tatsache habe ich mir schnell zu Nutzen gemacht und etliche Flaschen in der Apotheke bestellt.
Nach Evans erster Herzoperation wurde er mit einem Shunt und einem Herzmonitor kurzzeitig entlassen. Der Monitor war am Anfang immer an, damit ich seine Sättigung und Herzfrequenz überwachen konnte. Nach etlichen Fehlarlamen und aufgrund dessen etlichen „Herzinfarkte“meinerseits, habe ich den Monitor nur noch nachts angeschlossen und tagsüber, wenn Evan geschlafen hat und manchmal auch zwischendurch, aber nur manchmal. (Eigentlich war der Monitor trotzdem immer dabei.) Damit er im Zweifelsfall doch „mal eben kurz“ angeschlossen werden konnte – falls Evans Fingernägel oder seine Lippen etwas blauer aussahen. Die Zeit zwischen den ersten 2 Operationen war sehr nervenaufreibend. Einerseits war ich sehr glücklich, dass ich Evan zu Hause hatte und ein wenig Normalität leben durfte aber andererseits war da dieser ständige Begleiter: die Angst.
Evan durfte sich nach der 1. Operation nicht übermäßig aufregen und schreien. Dieses kann man einem kleinen Säugling allerdings nicht erklären, daher habe ich Evan die ersten Monate eigentlich nur tragend und tanzend, also tragend tanzend durch die Wohnung befördert. Gefühlt habe ich ihn morgens schon tanzend aus dem Bett gehoben und ihn den ganzen Tag bei Laune gehalten. Wenn wir spazieren gehen wollten, habe ich Evan, geschuckelt versteht sich, in den geschuckelten – ich hatte zum Glück immer passende Unterstützung bzw. Personal – Kinderwagen geschuckelt gelegt. Mittlerweile kann ich über diese Situation lachen. Früher hatte ich einfach nur Angst. Angst, dass Evan sich für einen kurzen Moment zu sehr aufregen könnte und der Alarm losgeht.
Heutzutage vergesse ich den Herzfehler manchmal, da Evans Autismus unseren Alltag sehr gut im Griff hat. Allerdings gibt es diese Momente, in denen die Angst sehr schnell zurück kommt. Wenn Evan nur einmal hustet, stehe ich – nachts oder tagsüber- sofort mit einem Hustensaft neben ihm; nachdem ich ihn mit Wik Vaporup eingecremt habe und Babix -ätherische Öle – in seinem Zimmer verstreut habe; mittlerweile bekommt sogar seine Kleidung einige Tropfen ab. Spätestens dann darf Evan auch nur noch Salbei Honig Tee trinken. Das Gleiche spielt sich ebenfalls bei einem kleinen Schnupfen und Niesen ab. Dann kann ich die Angst ganz klar spüren. Dann sitzt sie direkt neben mir und lächelt mich an, ja sie will mir sogar die Hand geben.
Früher habe ich einige Heilpraktiker aufgesucht, um Globoli für Evan zu bekommen. Für noch mehr Abwehrkräfte. Eine Heilpraktikerin war sehr ehrlich zu mir und hat mir empfohlen selber Beruhigungsgloboli zu nehmen. Leider haben die nicht geholfen.
Der Herzfehler hat in den ersten Lebensjahren von Evan mein Leben und Handeln bestimmt. Ich konnte die Anfangszeit mit Evan nicht genießen, da ich nur angst hatte. Morgens war sie da bevor ich aufgestanden bin und abends bevor ich ins Bett gegangen bin. Die Angst hat mich bestimmt. Wenn andere Mütter zum Babyschwimmen oder zur Babymassagen gefahren sind, habe ich mir Sorgen gemacht und bin schuckelnd und tanzend durchs Haus gelaufen.
Als Evan ungefähr 14 Monate war und er schon laufen konnte, wollte ich ihm neue Schuhe kaufen. Wir sind also zusammen in ein sehr überfülltes Schuhgeschäft gegangen. Evan ist nur weggelaufen, total verschwitzt – dank seines Schneeanzuges – und wollte partout keine Schuhe anprobieren. Und dann ist es passiert, ich habe angefangen zu weinen. Ich konnte mich gar nicht mehr beruhigen und auf einmal standen nicht nur 2 Schuhverkäuferinnen um mich herum. Die armen Damen haben gedacht ich weine, da ich schon so lange gewartet habe. Ich habe von jetzt auf gleich angst bekommen. Ihm ist warm, er schwitzt, sein Herz arbeitet zu sehr, er regt sich auf, er wird blau… Dieses Hamsterrad hat sich oft und ganz automatisch in Gang gesetzt.
Evan wurde operiert und er lebt zur Zeit sehr gut mit seinem halben Herzen. Aber Evan ist nicht gesund. Der Herzfehler ist nicht heilbar. Operiert heißt nicht geheilt. Oft kann ich diese Tatsache verdrängen aber manchmal kommt sie von einem auf den anderen Moment und trifft mich direkt. Ich habe früher sehr viel nach dem Herzfehler gegoogelt und immer und immer wieder nach Prognosen geschaut. Jede Information in mich eingesaugt und immer mehr gesucht. Wenn mir die Antworten nicht gefallen haben, musste ich sofort zehn gute Informationen finden. Vorher habe ich den Computer nicht mehr ausgeschaltet. Heute mache ich das nicht mehr. Wenn ich Artikel zu dem Herzfehler finde, überlege ich mir sehr genau, ob ich sie lese oder nicht. Oft meide ich auch „Hilfsgruppen“ oder Treffen mit anderen Herzkinder und Eltern. Ich habe gelernt genau zu selektieren und schauen was mir gerade gut tut. Auf unserer Reise habe ich auch schon Eltern kennengelernt, die ihr Kind verloren haben. Das sind dann immer sehr schwere Momente für mich. Zum Einen, da man sehr großes Mitgefühl empfindet und zum Anderen, da es mich selbst betrifft.
Mittlerweile habe ich gelernt der Angst die Hand zugeben. Ja, ich kann ihr sogar in die Augen schauen. An manchen Tagen ein wenig länger und an manchen Tagen ein bisschen weniger. Aber das ist in Ordnung. Ich habe gelernt, dass die Angst zu unserem Leben dazu gehört. Wenn ich sie zu sehr verdränge, wird sie immer größer und scheint unüberwindbar zu sein. Aber genau so gehört die Hoffnung in unser Leben und die lade ich jeden Tag aufs Neue zu uns nach Hause ein!
Seit der Geburt von Evan ist mein Leben wertvoller geworden und dafür bin ich unendlich dankbar.
Mut und Liebe haben eines gemeinsam: Beide werden von der Hoffnung genährt.